,,...und dann noch Basilikum und Ingwer. Schreibst du mit?" ,,Mhm", murmelte ich abwesend, während ich den Stift über das Papier fahren ließ. ,,Ezra? Kannst du dir das merken?" Meine Mutter sah mich eindringlich durch ihre schmalen, braunen Augen an. ,,Klar. Du kannst dich voll und ganz auf mich verlassen." Ich warf einen verstohlenen Blick auf meinen Einkaufszettel. Etwa die Hälfte von dem, was sie mir diktiert hatte, stand in unordentlich geschriebenen Lettern dort, mit der ein oder anderen Kritzelei am Rand.
Schnell schnappte ich das Papier und stopfte es in meine Hosentasche. Den Rest würde ich mir merken können. Meine Mutter zog eine Augenbraue hoch. ,,Das tue ich. Pass auf dich auf." Die Monotonität, die in ihrer Stimme lag, zeigte klar und deutlich, dass ihre Nacht lang gewesen war. Ich seufzte innerlich. Natürlich. Es gab genug Sachen, die ihr zu schaffen machten. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen.
,,Mach ich. Und ich beeile mich, in spätestens einer Stunde bin ich wieder da." Ich nahm mir etwas Geld aus der Haushaltskasse, zog meine Schuhe an und war gerade aus der Tür, als ich meine Mutter mir noch ,,Und guck, ob sie noch Medikamente für Tony haben", hinterherrufen hörte.
Um ehrlich zu sein, ich ging nicht gerne in die Stadt. Früher, ja. Aber da war ich auch noch jünger gewesen. Vielleicht auch naiver, doch man kann nicht abstreiten, dass die Stadt früher schöner war. Es gab Musik, an fast jeder Ecke saßen Straßenmusiker und spielten ihre Versionen von alten, fast vergessenen Liedern. Besonders schön war es an Markttagen, wenn die Händler aus den kleineren Dörfern kamen. Dann war die Luft von Gesprächen, Gelächter und dem lauten Anpreisen der eigenen Ware erfüllt. Was vielleicht auf den ersten Blick laut und stressig klingt, war einfach die beste Atmosphäre, die man sich für eine kleine Stadt vorstellen kann.
Aber davon ist heutzutage nicht mehr viel übrig. Heutzutage, in Zeiten des Virus. Er ist schnell, verdammt schnell, und verdammt tödlich. Zuerst hat es niemand wirklich ernst genommen, doch jetzt ist unsere Stadt nur eine von vielen, die gesetzlicher Isolation unterliegt. Das heißt vereinfacht gesagt, wir sind wie die Tiere in einem Ring und die hohen Herren sehen zu, wie wir uns gegenseitig zerfleischen.
Denn so läuft das eben. Die Menschen bedroht etwas, das sie sich nicht erklären können, und deswegen suchen sie ihre Sündenböcke. Und in diesem Fall, so verrückt es vielleicht klingen mag, sind es Hexen. Das letzte, was ich davon mitbekommen habe war, dass es auch Madame Mason, unsere örtliche Heilerin getroffen hatte. Auf öffentlichem Platz hingerichtet wurde sie, verbrannt auf dem Scheiterhaufen. Es war wahnsinnig, wie die Menge gegafft und gejohlt hat. Oder zumindest ein Teil. Ein anderer wirkte betroffen, und der Rest hatte einfach Angst. Ob Angst vor Madame Mason oder Angst davor, die nächsten zu sein, die der Hexerei beschuldigt werden, konnte man nicht sagen. Aber seit diesem Vorfall gehe ich nicht mehr in die Stadt.
Nach kurzem Fußmarsch trat ich aus dem Gewirr an schmalen, dunklen Gassen, in denen unser Haus, dicht an andere gequetscht stand, hinaus auf den Marktplatz. Sofort wurde ich von der Sonne, die nun nicht mehr von den weit gebauten Dächern und hoch über die Wege gespannte Wäscheleinen abgehalten wurde, geblendet und kniff die Augen zusammen. Es war ein seltsames Gefühl, wieder hier zu sein. Natürlich wusste ich, dass ich nicht ewig in unserem Ghetto bleiben konnte. Trotzdem hatte ich den Gedanken, einfach so zurückzukommen, als wäre nichts gewesen, wohl nicht komplett zu Ende gedacht.
Die Stadt war so, wie ich sie zurückgelassen hatte. Fachwerkhäuser, die kaum mehr als ein Stockwerk umfassten, einige Stadtbewohner, die ihre nötigsten Einkäufe in den Läden, die sich in den Erdgeschossen der Häusern befanden, erledigten und eine kleine Gruppe an Kindern, die draußen spielten und mit Kalksteinen kleine Zeichnungen auf das unebene Kopfsteinpflaster malten. Ich verzog meine angespannten Gesichtszüge zu einem leichten Lächeln. Süß, wie sorglos sie noch waren.
Weiterschlendernd, an Wohnhäusern und ersten Verkaufsständen vorbeikommend, hing ich nahezu nostalgischen Erinnerungen nach, die von dieser Umgebung geweckt wurden. Und vollkommen fasziniert von all den Eindrücken, die einerseits neu und gleichzeitig so vertraut waren, stand ich plötzlich vor der alten Bäckerei.
Auch dieses Haus hatte sich kaum verändert. Es sah aus, wie ein ganz normales Wohnhaus. Fachwerk, Reetdach und eine feste Holztür. Einzig das unauffällige Schild an der Hauswand, auf dem in goldenen, ineinander verschlungenen Buchstaben ,,Bäckerei Dougall" stand, wies es als diese aus. Wenn man mal von den verschiedenen Brotsorten, die in den Schaufenstern ausgestellt waren, absah.
Ohne wirklich nachzudenken, klopfte ich. Ich konnte unmöglich nach fast einem Jahr zurückkehren, ohne Nate einen Besuch abzustatten.
Nach einer Minute, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, machte ein Mann auf. Er war um einiges kleiner als ich, leicht rundlich und hatte gerötete Wangen. Ich erinnerte mich noch genau an ihn. Wie könnte ich ihn auch vergessen. ,,Ezra", begrüßte er mich. Der Ton seiner Stimme klang alles andere als erfreut. Ich hatte nichts anderes erwartet. ,,Ähm, Hi Monsieur Dougall." Krampfhaft bemühte ich mich, seinem stechenden Blick standzuhalten, doch das war leichter gesagt als getan. ,,Ist Nate da?" Monsieur Dougall bedachte mich mit einem weiteren abwertenden Blick. ,,Nathan!", rief er über seine Schulter in die Wohnung. ,,Besuch!" Eins stand fest, Nates Vater war über ein Jahr nicht wortgewandter geworden.
Es dauerte einen Moment und kurz befürchtete ich, er wäre überhaupt nicht Zuhause. Doch dann kam er. Nathan Dougall, der Grund, warum ich in dieser Stadt noch nicht wahnsinnig geworden war. Er drückte sich an seinem Vater vorbei und stand vor mir, sich mit einer Hand am Türrahmen festhaltend rauslehnend.
,,Ezra?" Im Gegensatz zu Monsieur Dougall war Nate groß, dünn und hatte warme, dunkelbraune Augen, keine stechend blaue wie sein Vater. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, doch genauso war Überraschung in seinem Gesicht zu sehen. Und... Schmerz. Autsch. Da war ja noch was.
,,Ihr habt wohl noch einiges zu klären." Monsieur Dougalls Schnurrbart, der seinen ganzen Mund verdeckte, wackelte beim Reden. Seine Worte trieften so vor Schadenfreude, dass es mich fast schüttelte. ,,Mach die Tür zu, wenn ihr fertig seid." Und mit diesen Worten verschwand er wieder im Haus, ließ die Tür offen und Nate und mich allein. Alleine mit unangenehmer Stille.
,,Du bist also wieder zurück", stellte Nate nach einiger Zeit fest. ,,Jep", entgegnete ich. ,,Eigentlich auch nicht lange, ich muss nur was für meine Mutter auf dem Markt kaufen. Also... Ich bin auch schon wieder so gut wie weg. Ich wollte nur mal Hallo sagen." Ich grinste schief. Mir war nicht nach Grinsen zumute, überhaupt nicht, aber ich fühlte mich auf einmal so unwohl, dass ich es irgendwie überspielen musste, um nicht komplett durchzudrehen. Nates langsames, nachdenkliches Nicken machte es nicht besser.
,,Es ist viel passiert während du weg gewesen bist." ,,Hab ich mir gedacht", murmelte ich. ,,Mhm." Kurz schien Nate in Gedanken zu sein. Dann schüttelte er den Kopf und sah mir wieder in die Augen. ,,Du musst zum Markt, sagtest du? Hättest du was dagegen, wenn ich spontan mitkomme?"
Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass es so einfach sein würde. Wenn ich es mir nur einmal aus Nates Sicht vorstelle - Nach einem Jahr tauche ich einfach vor seiner Tür auf, um... ja, um was eigentlich? Hallo zu sagen? Ein besserer Grund, um ihn wiederzusehen fiel mir nicht ein? Es ist schon ein Wunder, dass er einfach mitgekommen ist. Klar, früher wäre es auch so gelaufen. Aber es war nunmal nicht mehr früher. Und alles ging so schnell, dass ich selbst nicht ganz hinterherkam.
Obwohl die Tore geschlossen waren und die Stadt somit unter Quarantäne stand, hatte es auf das Leben hier auf den ersten Blick kaum Einfluss genommen. Sogar einen Straßenmusiker konnte ich leise ein, zwei Straßen weiter hören.
,,Eigentlich echt schön hier, oder?" Nate schien meinen faszinierten Blick bemerkt zu haben. ,,Dafür, dass ich es ganz anders in Erinnerung hatte, schon." ,,Die Leute waren unsicher, kurz nachdem die Tore geschlossen wurden. Das hat sich nach einer Zeit gelegt." Nate fuhr sich durch seine braunen Haare. Als wir noch jünger gewesen waren, hatten wir die selbe Haarfarbe gehabt, weshalb uns die Leute oft für Geschwister gehalten hatten. Jetzt waren meine Haare dunkler, zwar immer noch braun, aber von einigen, fast schwarzen Strähnen durchzogen. ,,Jeder hat sich vom König verraten gefühlt. Natürlich war da die Stimmung da erst einmal angespannt."
,,Wem sagst du das", seufzte ich. ,,Ich kenn 'nen Typen, der ist in der Taverne meines Onkels Stammgast. Hat eine Zeit lang davon geredet, dass er diesen Bastard umbringen will." Nate lachte. ,,Dass der sich das traut. Eine Zeit lang hätte er für so einen Spruch hängen müssen." ,,Ich glaube nicht, dass du solchen Leuten damit Angst machen kannst." Ich zuckte mit den Schultern. ,,Aber der wird wohl selbst klar kommen. Mein Onkel meinte, der Mann hätte seine ganze Familie an den Hunger verloren. Gesetz hin oder her... An seiner Stelle würde ich auch Hass auf die da oben schüren." ,,Gut möglich." Damit war das Gespräch vorerst beendet.
Erst, als ich wieder zurück zu Nate blickte bemerkte ich, wie er mich anguckte. ,,Was ist?" ,,Nichts." Er schüttelte den Kopf. ,,Aber du hast echt einen ziemlichen Ghetto-Slang bekommen." Ich lachte leise. ,,Sehr witzig." ,,Nee, ist echt so." Er musterte mich kurz. ,,Ich hab dich vermisst", murmelte er leise. ,,Jeden Tag. Es war schwer zu akzeptieren, dass du auf einmal nicht mehr da warst."
Das kam unerwartet. Aber es löste so ein seltsam ungewohntes Gefühl in mir aus. Ich konnte es nicht benennen, aber es fühlte sich unglaublich gut an. ,,Ich dich auch. Du glaubst nicht, wie oft ich in einer dunklen Ecke vor der Stadt saß und mir ausgemalt habe, alles wäre wie vorher. Also, wirklich wie vorher. Wie vor der Mauer. Bevor man abgeknallt wurde, wenn man einen Fuß nach draußen gesetzt hat." ,,Wer tut das nicht." Kurz berührten sich unsere Hände. Ein Kribbeln breitete sich unter meiner Haut aus, ich hätte nicht gedacht, dass Körperkontakt sich so gut anfühlen könnte. Mein Atem stockte. Für eine Sekunde, dann war der Moment auch schon wieder vorbei. Und ich fragte mich, ob er es genau so empfunden hatte wie ich, oder ob Nate die Berührung nicht einmal wahrgenommen hatte.
,,Wie geht es eigentlich deinen Geschwistern?", fragte Nate. ,,Meinen Brüdern soweit gut. Danny geht bald zu einem Handwerker aus der Stadt in die Lehre. Mutter ist furchtbar stolz auf ihn, nicht jeder schafft es aus unseren Vierteln nach draußen." Ich lächelte. Auch ich freute mich natürlich für meinen jüngeren Bruder, trotzdem hatte ein gewisser bitterer Geschmack mitgeschwungen. Eigentlich hatte ich letzten Sommer meinen Abschluss machen wollen. Für Frauen war es schwer genug, an einen Platz in den Schulen zu kommen, doch der Virus und die Isolation waren das Ende gewesen. Die Schere zwischen den Bevölkerungsschichten hatte mir die letzten Möglichkeiten genommen, je zu studieren und meine letzte Hoffnung war ein Ende der Epidemie. Aber auch diese wurde von Tag zu Tag kleiner.
,,Und Tony... Naja, ihr geht es, um ehrlich zu sein, ziemlich mies. Sie hat im späten Winter Husten bekommen, und er geht nicht mehr weg. Egal, was wir versuchen." Nate sah mich erstaunt an. ,,Glaubst du, sie könnte..." ,,Nein", entgegnete ich entschieden. ,,Und selbst wenn, wir werden es nicht melden." ,,Aber die Gesetze-" Ich schüttelte nur den Kopf. ,,Du hast doch keine Ahnung, was das für Auswirkungen hätte. Momentan sind wir froh, wenn wir über die Runden kommen, im Gegensatz zu den Städtern hat nicht jeder 'nen Vorrat an allem im Keller. Eine Quarantäne wäre katastrophal. Und in unseren Vierteln schaut da sowieso keiner genau hin. Da keucht und fleucht so viel herum, ein Kleinkind mehr oder weniger fällt niemandem auf."
,,Verstehe", murmelte Nate. ,,Kennst du noch Doktor Alberto?" ,,Diesen komischen Alten? Vor dem deine Mutter uns immer gewarnt hat?" Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. ,,Genau den. Mein Dad hat eine Zeit lang mit ihm gepokert, wenn ich Glück hab, schuldet der uns noch was." Nate zwinkerte mir zu. Zuerst verstand ich nicht ganz, doch dann wurde mir klar, was er meinte. Meine Augen weiteten sich und ich musste unwillkürlich grinsen.
Doktor Alberto war dafür bekannt, jegliche Substanzen der legalen und illegalen Sorte zu besitzen. Wenn es Medikamente für meine Schwester gab, dann dort. Nate und ich beeilten uns, in die Matthieu-Straße zu kommen, wo er seine Praxis hatte. ,,Vielleicht könnte ich demnächst mal wieder mit zu dir kommen", überlegte Nate im Rennen laut. ,,Ich meine - mein Dad muss es ja nicht unbedingt erfahren." Er schnappte leise nach Luft. ,,Er kann mich immer noch nicht ausstehen, nicht wahr?" Nate zog eine Grimasse. ,,Du kennst ihn doch, er ist ein bisschen eigen." Eine schöne Formulierung dafür, wie sehr dieser Mann mich hasste. Aber ich wollte Nate seinen Vater nicht madig reden, also beließ ich es dabei.
,,Da ist Albertos Haus!" Ich wollte gerade die Straße hinunter, als Nate mich zurückhielt. ,,He, warte mal. Siehst du das?" Ich wollte gerade den Kopf schütteln, als ich noch einmal genauer hinsah. Tatsächlich. Etwa ein halbes Dutzend Männer, in voller Rüstung und mit Schwertern und Lanzen ausgestattet, hatten sich vor dem windschiefen Häuschen versammelt. ,,Was ist denn da los?" ,,Lass uns gehen, Ezra", sagte Nate plötzlich. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht verschwunden und in seiner Stimme lag mehr als nur Beunruhigung. ,,Schnell." ,,Aber warum denn? Ich brauch diese Medizin." ,,Ezra, bitte-"
Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte auf ihn gehört. Aber Sie wissen es wahrscheinlich, werter Lesende, am Ende ist man immer schlauer. Und natürlich hörte ich nicht auf ihn. Stattdessen riss ich mich los und lief weiter, bis ich vor der Praxis stand.
Unten sah ich erst das Ausmaß dieses Theaters. Überall standen Menschen, dicht an den umstehenden Häusern, als würden die Wände sie beschützen. Vor offensichtlichen Soldaten der königlichen Garde? Seltsam.
Ich steuerte auf den Eingang der Praxis zu, die Männer ignorierend. Auch, wenn sie irgendwie einschüchternd waren... Sie würden mir sagen, wenn ich hier nicht sein dürfte. Wenn ich eine Chance auf die Medikamente hatte, würde ich sie ergreifen.
Doch ich kam nicht einmal bis zur Tür durch. Ein großer, breit gebauter Soldat stand davor und hämmerte mit seiner metallverkleideten Hand dagegen. ,,Machen Sie auf! Öffnen Sie die Tür, oder wir werden sie öffnen." Stille. ,,Wir wissen, dass Sie da drinnen sind und Ihr Teufelswerk tun!" Erneut war es still auf der anderen Seite, dann wurde ein Schlüssel im Schloss herumgedreht und Doktor Alberto erschien.
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