Die Vögel zwitscherten fröhlich, die Morgenröte tauchte die Landschaft in ein zartrosa Licht, ein leichter Wind rauschte durch die Bäume - und ein aggressiv klingendes Kaninchen fletschte ungefähr drei Meter unter mir knurrend seine unnatürlich scharfen Zähne.
,,Ich habe echt gedacht, dieses Mal funktioniert das", murmelte Rei zerknirscht, mehr zu sich selbst als zu mir. ,,Ich hätte wissen müssen, dass dieser Zauber gewisse Nebenwirkungen haben könnte." ,,Mach dir keine Vorwürfe", versuchte ich sie trotz unserer, zugegeben recht misslichen Lage, zu beruhigen. ,,So etwas passiert den Besten. Außerdem hätte ich dir einfach einen leichteren Spruch zum üben geben sollen." ,,Mhm", entgegnete sie, wenig überzeugt.
Sie tat mir fast ein bisschen leid. Wir übten nun schon seit Wochen und hatten es schon mit plötzlichem Säureregen, Buschfeuer und verzauberten Fröschen zutun gehabt. Meine Schülerin blieb vor kaum einer Nebenwirkung verschont. Wobei mir tollwütige Tiere neu waren. Aber trotzdem. Es musste furchtbar demotivierend sein, wenn sämtliche Bemühungen nur mäßig funktionierten. Und ich konnte nicht abstreiten, dass auch ich mich als Lehrer, wenn man es denn so nennen konnte, langsam hinterfragte.
,,Ich kenne einige gute Hexen, die so angefangen haben." Das war nicht einmal gelogen. Genauso, wie Rei auch kein komplett hoffnungsloser Fall war. Das Potential war da. Nur an der Ausführung scheiterte es eben noch ein bisschen.
,,Einige gute Hexen, die beinahe von Kaninchen gefressen wurden?" ,,Also so direkt nicht, aber schon... Ich meine, es gab da sicher den einen oder anderen-" ,,Ich habe das Gefühl, du denkst an jemanden bestimmten?", erkundigte sie sich. Verdammt. Fragen in die Richtung waren das letzte, was ich gebrauchen konnte. ,,Ist nicht so wichtig", lenkte ich vom Thema ab. ,,Zuerst kümmern wir uns um die Biester da unten."
,,Jetzt fangen sie an, den Baum anzuknabbern", bemerkte Rei besorgt, während ich sämtliche Bücher, die ich dabei hatte, nach einem passenden Gegenspruch durchsuchte. ,,Vielleicht sollten wir abhauen. Hast du deinen Besen dabei?" ,,Was denkst du denn? Ich hatte ja nicht ahnen können, dass wir heute noch vor Horrorhasen fliehen müssen! Aber probiere mal den Spruch aus." Mich mit einer Hand krampfhaft an dem Stamm der alten Eiche festhaltend, gab ich ihr vorsichtig mit der anderen das Buch.
,,Bist du sicher, dass der hilft?" Rei sah hoch. ,,Von Tollwut ist da ja nicht direkt die Rede. Eher so etwas wie... Wahnsinn, Verwirrung. Eigenartigkeit. Würde auf Pentragon passen, findest du nicht?" Sie lachte leise und richtete die Augen wieder auf den Text. Ich gab nur ein zustimmendes Geräusch von mir. In letzter Zeit verhielt der Meister sich tatsächlich etwas seltsam. Auf einem Baum sitzend war allerdings ein denkbar schlechter Moment, sich den Kopf über ihn zu zerbrechen.
,,Mach einfach. Ich habe nur wenig Lust, dass der Baum hier gleich umkippt." Diese Mutationen konnten echt schnell knabbern. Rei nickte, richtete ihren Zauberstab auf einen der Hasen, kniff konzentriert ein Auge zu und murmelte leise etwas.
Ich betete, dass ich den richtigen Spruch herausgesucht hatte und er es nicht noch schlimmer machen würde. Doch alles ging glatt, die Hasen blickten sich, kaum, dass die Magie ihre Wirkung vollzog, nur kurz verwirrt um und hoppelten dann verängstigt ins Gebüsch.
,,Uff, gerade noch mal gut gegangen", seufzte ich erleichtert, als wir den Baum hinunterkletterten. ,,Ich kann mich nicht erinnern, jemals von einem Spruch gehört zu haben, der friedliche Waldbewohner aggressiv macht. Also sieh es positiv, du hast soeben einen neuen Zauber erfunden."
Unfreiwillig kam mir wieder eine Person in den Kopf. Eine Person, die ich eigentlich schon längst verdrängt hatte. Sie hatte es auch immer wieder geschafft, mit ihren Zaubern etwas anzurichten, von dem niemand der älteren Hexen je etwas gehört hatte. Umso schwerer war es, ihre Katastrophen wieder geradezubiegen. Im Gegensatz zu Rei, die es meistens schaffte, einen passenden Gegenzauber zu finden. Trotzdem hatten die beiden vermutlich mehr Ähnlichkeiten, als ich wahrhaben wollte.
,,Hallo, Erde an Simon! Ich rede mit dir, hörst du mich?" Ich zuckte zusammen. ,,Alles in Ordnung? Du bist schon den ganzen Morgen so abwesend." ,,'Tschuldige", murmelte ich, mit den Gedanken noch immer woanders. ,,Es ist nur... ich mache mir Sorgen. Pentragon verhält sich momentan wirklich etwas eigenartig. Vielleicht hat er irgendetwas in seiner Glaskugel gesehen. Irgendetwas beunruhigendes. Aber er spricht ja nicht über seine Versionen!" Ich seufzte. ,,Ich habe das Gefühl, er vertraut mir nicht. Nach all den Jahren..."
,,Mach dir keinen Kopf." Rei zupfte sich ein Blatt aus ihren blonden Haaren. ,,Wenn es was wirklich Ernstes sein würde, würde er mit uns reden." ,,Es ist ja nicht nur das. Wir leben bei dem Meister, seit wir zwölf Jahre alt waren! Er war wie ein Großvater für mich, ich hatte bei ihm Unterricht, durch ihn habe ich einen Großteil meines Wissens erlangt. Wann nimmt er mich endlich für voll?" ,,Pentragon ist eben etwas eigen. Er weiß wahrscheinlich nicht, wie er das richtig ausdrücken soll. Und vielleicht wird er es uns irgendwann erzählen, was er da Abends immer in seiner Kugel sieht. Wer weiß." Sie zuckte mit den Schultern. Ich wünschte, ich könnte das ganze so locker nehmen wie sie.
,,Apropos Pentragon", fiel mir ein, als wir uns gerade auf den Rückweg machen wollten. ,,Er sprach doch davon, dass es in der Stadt irgendwie unruhig ist, oder?" Rei sah mich verwirrt an. ,,Ja... und?" ,,Naja, ich war lange nicht mehr dort. Es würde mich interessieren, ob er Recht hat." ,,Der Mann verfügt über eine magische Glaskugel und kann die Zukunft voraussagen, wenn jemand auf dem neusten Stand ist, dann doch wohl er." ,,Ja schon", lenkte ich ein. ,,Du verstehst nicht, worauf ich hinauswill." ,,Glaub mir, ich verstehe es. Und ich halte es für eine schlechte Idee."
Wenig später betraten wir den Marktplatz. Es war voller hier als beim letzten Mal, stellte ich fest. Zum Glück, wahrscheinlich wäre unsere eher düstere Aufmache sonst schnell aufgefallen. Nervös sah ich mich immer wieder um, die Erinnerungen an meinen letzten Stadtbesuch waren zwar dunkel, aber noch immer da.
,,Alles wie immer", murmelte ich leise zu Rei. ,,Keine Ahnung, was der Meister für ein Problem hat, es ist doch alles friedlich hier." Sie sah sich nervös um. ,,Ich weiß nicht, ich habe ein ganz ungutes Gefühl bei der Sache." Gerade wollte ich Rei fragen, was sie damit meinte, als ich plötzlich unterbrochen wurde.
,,Hexen!", ertönte eine laute, männliche Stimme einige Meter hinter uns. ,,Es weilen Hexen unter uns! Schnappt sie!" Erschrocken fuhr ich herum. Meinte der uns?
Rei und ich warfen uns kurz ein paar Blicke zu, die so viel sagten wie Lauf! und gleichzeitig liefen wir los. Schlagartig verfluchte ich nun den vollen Marktplatz. Die vielen Menschen machten es fast unmöglich, unauffällig und schnell voran zu kommen, ohne nicht irgendjemanden beiseite zu schubsen oder auf den Fuß zu treten. Und das mit der Unauffälligkeit konnten wir jetzt sowieso vergessen. Bald achteten wir überhaupt nicht mehr darauf, wo wir hinrannten, Hauptsache weg von hier.
Ich meinte, einige Leute uns hinterherrennen zu hören, hoffend, dass ich mich irrte. Doch ich wusste es besser. Wenn wir jetzt anhielten, würden sie uns kriegen. Diese Menschen waren versessen auf ihre Hexen. Ich könnte mich ohrfeigen für meine dämliche Idee, wieder hier herzukommen. Und gleichzeitig nahm ich mir vor, es mir zur Angewohnheit zu machen, von heute an meinen Besen überall hin mitzunehmen.
,,Ich nehme alles zurück", keuchte ich, als wir uns hinter einer alten Scheune, die verlassen am Waldrand stand, vorübergehend in Sicherheit gebracht hatten. Hier, unter den dunklen Tannen, waren wir sicher. Die Stadtmenschen kamen niemals in den Wald.
,,Von wegen friedlich. Die sind hier alle komplett übergeschnappt. Einfach wahllos Bürger auf der Straße als Hexen betiteln." ,,Vielleicht meinten die uns gar nicht. Vielleicht waren noch andere Magier da, die etwas auffälliger rumliefen." Rei, die sich auf den staubtrockenen Waldboden hatte fallen lassen, sah vorsichtig um die Ecke auf den holperigen Steinweg, der aus dem Dorf hinausführte. Sie klang nicht so, als würde sie ihren eigenen Worten wirklich Glauben schenken. ,,Hast du die Typen gesehen, die uns da hinterhergehetzt sind? Die schienen ja förmlich auf ihr Kommando gewartet zu haben. " Also hatte ich doch Recht, was die Verfolger anging. ,,Wie auch immer, ich möchte es ungern herausfinden. Nach dem, was ich vom König gehört habe, klingt er nicht wie jemand, der Hexerei in seinem Volk durchgehen lässt." ,,Kannst du laut sagen", knurrte ich bei dem Gedanken an diesen Kerl.
,,Lass uns lieber verschwinden, bevor die uns hier finden und wir wirklich noch auf dem Scheiterhaufen landen", sagte ich nach einer Zeit. Rei warf mir einen hab-ich-es-doch-gesagt-Blick zu, dann nickte sie. Während wir auf mehreren Umwegen, um bloß niemandem zu begegnen, zurück zum Haus des Meisters gingen, fragte ich mich, ob das die Unruhen waren, von denen Pentragon gesprochen hatte.
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,,Bist du sicher, dass du weißt, wo wir lang müssen?", fragte Rei zweifelnd. ,,Ich meine - dieser Baum sieht dem, an dem wir vor einer Stunde vorbeigekommen sind, doch irgendwie ähnlich, oder?" ,,Äh, naja", erwiderte ich und legte den Kopf in den Nacken. ,,Es ist dieselbe Baumart. Eichen können sich halt schon mal ähnlich sehen. Vertrau mir." ,,Tu ich doch immer." Rei grinste und kramte kurz in ihrer Tasche. Dann stockte sie. Das Grinsen verschwand schlagartig.
,,Simon? Hast du meinen Zauberstab?" ,,Äh, nein? Warum sollte ich?" Sie sah jetzt beinahe panisch aus, während sie sämtliche Taschen, die sie besaß, was nicht viele waren, hektisch durchsuchte. ,,Weil er nicht da ist. Im Haus des Meisters kann er nicht sein, ich habe ihn mitgenommen." Stimmt. Deswegen wären wir fast draufgegangen.
,,Und das letzte Mal gesehen habe ich ihn, bevor wir in die Stadt gegangen sind. Scheiße, Simon, wenn ich ihn da verloren habe..." ,,Dann sind wir tot", murmelte ich. ,,Aber sowas von. Zuerst killen uns die Stadtbewohner, wenn sie rausfinden, wem das Ding gehört und dass es magisch ist-" ,,...und dann köpft Pentragon uns, weil wir ihm eine Menge Ärger beschert haben."
Es stand also fest - wir mussten noch einmal zurück in die Stadt.
Je näher wir den Toren kamen, desto nervöser wurde ich. Meine Hände schwitzten und ich atmete flacher. Hoffentlich kamen wir rechtzeitig. Hoffentlich war Reis Stab in der Menge nicht zertreten worden. Oder noch schlimmer, von einem unserer Verfolger gefunden.
Die ganze Zeit hatte ich gehofft, den Zauberstab irgendwo auf dem verwurzelten, von Tannennadeln übersäten Waldboden liegen zu sehen, doch natürlich lag er da nicht und natürlich fiel Rei nicht plötzlich irgendeine vergessene Tasche ein, in der das Ding in die hinterletzte Ecke gerutscht sein könnte. Wär ja auch zu schön gewesen.
Vor der Scheune, hinter der wir uns noch vor gut zwei Stunden versteckt hatten, blieben wir also stehen. ,,Okay", murmelte Rei leise. ,,Ich gehe. Ich hab dem Stab verloren, also werde ich ihn zurückholen." ,,Vergiss es", schnaubte ich. ,,Wir beide oder keiner!" ,,Du weißt, keiner wäre mir lieber." Ich nickte. Mir auch.
Hexen wie wir waren in der Stadt nicht gerne gesehen. Zumindest, seit es diesen Virus gab. Sicher, Hexerei war auch vorher illegal gewesen. Aber so lange es man nicht öffentlich tat, war es jedem egal und niemanden interessierten zwei auffällig dunkel gekleidete Unbekannte. Aber seit den ersten Toten war es plötzlich jedem klar, wer hier das wirkliche böse war. Sie bestraften jeden: Hexen, Zauberer (ja, da gab es einen Unterschied), sogar ihresgleichen. Hauptsächlich ihresgleichen, denn als wir verstanden, dass unter den Menschen kein Platz mehr für uns war, flohen wir. In die Wälder, in die Flüsse, doch die meisten in die Berge. Aber die Menschen flohen nicht. Sie fühlten sich sicher in ihren kleinen, abgegrenzten Städten. Jedenfalls so lange, bis der Blutdurst der Menge wieder gestillt werden muss, so lange, bis sie wieder das Bedürfnis verspüren, jemanden für ihre Lage leiden zu lassen. Und selbst dann fliehen sie nicht.
Doch auch, wenn es meistens Nicht-Magische traf. Außer Rei, dem Meister und mir waren, soweit ich wusste, keine Hexen mehr in unserer Gegend vertreten. Entweder sie waren geflohen, oder sie hatten brennen müssen.
,,Also, du erinnerst dich noch genau, woran du vorbeigelaufen bist?" Rei nickte entschlossen. ,,Diesen Weg gehen wir ab, halten die Augen offen und wenn wir ihn nicht finden-" ,,Ach komm schon, nicht so pessimistisch", fiel ich ihr ins Wort. Ich versuchte, zu grinsen, dabei überspielte ich einfach nur meine eigene Unsicherheit. Es war kindisch, aber ich hoffte, wenn der Satz unausgesprochen blieb, würde es gar nicht erst passieren. ,,Die Lage ist ernst, Simon!" Sie sah mich vorwurfsvoll an. ,,Deine Haltung zu Dingen kann sich enorm auf das Schicksal auswirken, schon vergessen?" Rei verdrehte nur die Augen.
,,Bereit?", fragte ich und schluckte. Die kühle Steinmauer des Stadttors war kühl und bot einen entspannenden Ausgleich zur hoch stehenden Mittagssonne. ,,Absolut." Dann kamen wir hinter den schützenden Säulen hervor und stürzten uns in das vormittägliche Getümmel des Marktes.
Autorennotiz: Um kurz zu erklären, warum die Kapitel immer nur halb hochgeladen werden, doe Story war bereits mit vollständigen Kapiteln auf Wattpad online. Da gibt es keine Begrenzung. Hier schon. Ist ärgerlich. Anyways, ich habe endlich einen Series Banner gezeichnet. I'm proud of it. Hehe.✨
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