„Fuck!“ Schimpft er, steht auf, wirft das Schachbrett um und schlägt der rothaarigen das Bier aus der Hand, bevor er sich mit finsterem Blick vom Acker macht. Sie rennt ihm wütend hinterher.
Seufzend nehme ich einen großen, erlösenden Schluck von meinem Bier.
„Du hebst das auf.“ Sage ich gelangweilt zu Aaron. „Ist eh deine Schuld, dass ich hier sitze.“
„Danke, Man! Du hast echt was gut bei mir!“ Aaron grinst wie ein Honigkuchenpferd. Wenigstens einer von uns hat hier seinen Spaß.
„Um was habt ihr
gewettet, wenn du gewinnst?“ frage ich. Sein Grinsen gruselt mich ein wenig.
Aaron legt schmunzelnd den Kopf schief.
„Ein Geheimnis.“ Sagt er schließlich. Ich stöhne und lege den Kopf zurück.
„Sag mir nicht, dass es was mit der Rothaarigen zu tun hat!“
Aaron grinst. „Yara!“ korrigiert er mich. „Sie ist in meinem Statistikkurs.“
Frustriert lasse ich meinen Kopf in die Hände sinken. „Dude, mit sowas schaufelst du dir dein eigenes Grab!“ Aaron verdreht die Augen.
„Jetzt sei nicht gleich so dramatisch, Er behandelt Sie wie Scheiße! Ich würde das anders machen!“
Ich atme lang und
intensiv aus. „Man, wenn sie das jemals herausfindet, ist eure Beziehung vorbei,
bevor sie erst angefangen hat!“ Aaron ignoriert mich geflissentlich und behält
weiterhin seinen sorglosen Gesichtsausdruck. Gruselig.
Während er die einzelnen Figuren wieder aufsammelt, lasse ich meinen Blick über
die Leute schweifen. Ein paar von ihnen schauen neugierig zu uns herüber, seit
der Typ so einen Aufstand gemacht hat.
Schließlich fällt mein Blick auf ein blondes Mädchen in einfacher Jeans und weißem T-Shirt in der Tür. Sie sieht nach draußen in den Flur. Komisch. Ihre Gesichtsform kommt mir bekannt vor. Plötzlich dreht sie sich zu uns um und mein Herz bleibt stehen.
Mit einem Blinzeln kommen hunderte Erinnerungen an meine Teenager Zeit hoch. Ich kenne sie! Ich blinzele noch ein paar Mal, um mich zu vergewissern, dass sie keine Vata Morgana ist.
„Ey Man, hast du was im Auge?“ Fragt Aaron, bevor er sich neben mir auf dem Ledersessel des Typen niederlässt.
Ich habe nur flüchtig mitbekommen, dass er mit mir spricht. Ich kann meinen Augen noch immer nicht trauen. Vor mir, nur zehn Meter entfernt, steht meine erste Liebe. Das erste, (und wahrscheinlich einzige) Mädchen, in das ich je verliebt war. Sie sieht fast noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe! Sie steht im Türrahmen und scheint sich nach jemandem umzusehen. Sucht sie eine Freundin? Oder einen Freund? Ich schlucke trocken.
In mein
Nachbarsmädchen Valerie war ich schon seit der Grundschule verknallt. Klar bin
ich ein unsozialer Nerd, aber ich habe damals alles Mögliche getan, um mit ihr
befreundet zu sein. Ich habe sogar versucht, mich mit ihren Freundinnen zu
verstehen! Jeden Tag nach der Schule waren wir zusammen bei mir zu Hause und haben
Videospiele gespielt! Für sie war das wahrscheinlich eine einfache
Freundschaft. Aber für mich war Es viel mehr. Unsere Freundschaft war beispiellos.
Aber nur, bis sie fünfzehn wurde und ihre Familie weggezogen ist.
„Haaalloo! Erde an Adrian!“ Aaron wedelt mit einer Hand vor meinem Gesicht herum.
Irritiert schiebe ich seine Hand weg, die mir die Sicht auf Valerie versperrt. Aaron rückt etwas näher heran und sieht in dieselbe Richtung wie ich.
„Wen checkst du aus? Die kleine Blonde?“ fragt er neugierig, bevor er einen großen Schluck Bier trinkt.
Wohin sind sie damals nochmal gezogen? Frankfurt? Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Was macht sie hier? Studiert sie hier? Was studiert sie? Wohnt sie wieder in Hannover?
Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren.
Oh Gott, was wenn sie nur für kurze Zeit hier ist? Was wenn sie nur alte Freundinnen besucht, bevor ihr Semester in Frankfurt oder sonst irgendwo beginnt? Sowas kommt tatsächlich öfter vor! Bei dem Gedanken, dass sie bald wieder für immer weg sein könnte, läuft es mir kalt den Rücken herunter.
Wie oft habe ich mich damals heulend in meinem Zimmer eingeschlossen und mir vorgenommen, dass ich, sollte ich sie jemals wiedersehen, ihr meine Liebe gestehe! Ich fühle, wie mein Gesicht bei der peinlichen Erinnerung rot anläuft. Aber das ist so lange her-- Habe ich überhaupt noch Gefühle für sie? Ich nicke wortlos, und will einen weiteren Schluck Bier nehmen, als mir auffällt, dass die Flasche bereits leer ist. Mist. Vorwurfsvoll starre ich die leere Bierflasche an. Ausgerechnet in so einer Lebensverändernden Situation ist das Bier leer! Der Nachschub ist in der Küche. Der einzige Weg zur Küche ist der Türrahmen, in dem sie steht. Anscheinend hat sie die Person nicht gefunden, nach der sie gesucht hat. Nun tippt sie auf ihrem Handy herum.
Mein Verstand befindet sich im Zwiespalt. Eine unglaubliche Nervosität hat mich gepackt. Wenn ich jetzt durch diese Tür gehe und sie nicht anspreche, werde ich mich für den Rest meiner weiteren, kläglichen, abgeschotteten, dissozialen Existenz darüber ärgern, dass ich mir die Chance habe entgehen lassen!
Aber wenn ich sie
anspreche und sie mich nicht wiedererkennt, wäre mir das wahrscheinlich so
peinlich, dass ich für den Rest meiner kläglichen, abgeschotteten, dissozialen Existenz
das Labor nicht mehr verlassen würde. Nervös an meinem Daumen kauend sehe ich an
mir herunter.
Mist.
Ich trage das typische Nerd-Outfit: Ein schwarzes Heavy-Metal-T-Shirt von
meiner Lieblingsband, eine ausgeleierte Hose, hier und da besprenkelt mit
Schwefelsäureflecken (man mag sich nur mal vorstellen, wie mein Laborkittel
aussieht…) und furchtbar hässliche, ausgelatschte Schuhe! Wenn ich Pech habe,
findet sie mich so seltsam, dass sie so tut, als ob sie mich nicht kennt!
Unentschlossen prokele
ich mit den Fingern an meinem Bierflaschenetikett herum.
Was, wenn sie einen Freund hat? Ich würde vor Scham im Boden versinken. Und vor
Reue. Oh Gott, ich will es mir nicht mal vorstellen.
Allerdings… nüchtern betrachtet, verlasse ich mein Labor ja ohnehin fast nie, also wäre das kein großer Verlust. Und außerdem, wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass sie noch Single ist, wäre ich bescheuert, meine Chance zu versäumen! Das hier muss ein göttlicher Wink mit dem Zaunpfahl sein, oder so! Wenn ich an ihr vorbeigehe und sie mich erkennt, wird sie mich fragen, warum ich sie ignoriere und dann die Schlussfolgerung ziehen, dass ich sie nicht mehr leiden kann. Oder noch schlimmer: dass ICH sie vergessen hätte. Das wäre eine noch viel größere Katastrophe.
Nagut: die Logik hat entschieden! Ich muss sie Ansprechen und ihre Nummer besorgen sonst sehe ich sie vielleicht nie wieder!
Gerade will ich
meine Bierflasche auf den Tisch stellen und mich aus dem Sessel erheben, als
ich eine bekannte Stimme höre:
„Adrian?“ fragt
Valerie.
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