„Adrian?“ fragt Valerie.
Mein Blick schnellt zu ihr hoch und ich stehe so schnell auf, dass ich meine Balance verliere und fast wieder in den Sessel zurückfalle. Ich stütze mich unglücklich mit der Hand auf dem Tisch ab und werfe dabei ein paar der Schachfiguren wieder herunter. Das zum Thema Blamieren. Super!
„Valerie!“ Sage ich nervös und versuche krampfhaft, Augenkontakt mit ihr zu halten. Sie steht direkt vor mir. In der Zeit, in der meine Gedanken Karussell gefahren sind, hat sie mich entdeckt und den Raum durchquert.
„Wow, das ist ja ewig her! Es ist so schön dich wiederzusehen!“ Sagt sie begeistert. Bevor ich verarbeiten kann, was passiert, umarmt sie mich!
Aaron macht große Augen. Ich bin so geschockt, dass ich erstarre und die Umarmung zunächst gar nicht erwidere. Als mir das klar wird, lege ich auch schnell einen Arm um sie.
„Man, das ist echt unglaublich! Was machst du hier?“ frage ich. Meine Nervosität hat sich eben verzehnfacht. Valerie dreht sich um und lässt ihren Blick über die Leute schweifen.
„Ich bin mit Yara hier. Sie kennt irgendeinen Typ, der einen Typ kennt, der hier wohnt.“ Sie lacht. „oder sowas in der Art.“ Ihre vom Alkohol leicht geröteten Wangen erinnern mich an früher. Außerdem hat sie Grübchen, wenn sie lacht. Als könnte ich das je vergessen…
„Ach, tatsächlich?“ frage ich zögerlich lächelnd. „Yara, die damals mit uns in die Schule gegangen ist?“ Stimmt! Ich erinnere mich, dass Valerie immer diese eine Freundin am Ärmel hatte, wenn sie früher ausging.
„Ja, genau! Aber
du würdest sie wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen! Sie hat jetzt langes,
feuerrotes Haar und sieht total verändert aus! Ich habe sie eben gesucht, weil
wir uns aus den Augen verloren haben und ich hier sonst niemanden kenne…“ Valerie
sieht sich wieder im Raum um.
Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals… Ich könnte eventuell eine Ahnung haben, wen
sie damit meint.
„Und, wie findest du es hier?“ frage ich, aus Angst sie lässt mich stehen und geht Yara suchen, deren Freund ich gerade beim Schach abserviert habe…
„Naja, es ist ziemlich…“ Sie sieht sich den Stuck an der Decke und die dunkle Holzvertäfelung der Wände an. „Pompös.“
„Pffft“ Ich muss lachen, weil ich genau dasselbe gedacht habe, als ich zum ersten Mal hier war. Sie kichert auch.
„Naja, es erinnert mich an ein altes Herrenhaus, aber es ist irgendwie gemütlich. Diese ganzen alten Ledersessel und all diese Räume für Schach und Billiard und was auch immer es noch alles gibt.“
„Du würdest dich wundern. Hier gibt es einen Folterkeller!“ Sage ich scherzhaft. Kurz weiten sich ihre Augen, bevor sie herzhaft zu Lachen anfängt.
„Und, wird der noch benutzt?“ Fragt sie lachend.
„Ja. Hin und wieder werden wir dort unten gezwungen unsere Hemden zu bügeln.“ Scherze ich. „Ansonsten wird er zum Fechten benutzt.“
„Oh, fechten?“ fragt sie erstaunt. „Du fechtest?“
„Nicht in einer Millionen Jahren.“ Sage ich trocken. „eher würde ich mir die Nägel lackieren lassen.“ Das bringt sie wieder zum Lachen. Woher kommen diese Sätze? Wie peinlich. Mein Gehirn scheint auf Autopilot geschaltet zu haben. Konnte ich sie früher auch zum Lachen bringen oder habe ich sie früher mit all meinen Computerspielen eher gelangweilt? Meine Gedanken kreisen unaufhörlich.
„Also heißt das- du wohnst hier?“ fragt sie, nachdem ihr Lachanfall abgeebbt ist.
„Ja.“ Ich neige meinen Kopf zur Seite. „Scheint so, als ob du jetzt auch selbst jemanden kennst, der hier wohnt.“ Sage ich schelmisch und grinse.
„Ja, scheint so.“
Stimmt sie kichernd zu.
Ein peinliches Schweigen entsteht. Ich will sie irgendwie bei Laune halten
damit sie noch etwas länger bleibt.
„Oh, ich hole noch etwas zu trinken. Willst du auch Was?“ frage ich sie und
mache eine weisende Kopfbewegung in Richtung der Küche.
„Klar!“ Sagt sie erleichtert und folgt mir durch das Menschengedränge. Aaron bleibt allein im Sessel zurück und sieht uns staunend hinterher. Ich bemerke, wie er sein Handy herausholt und darauf herumtippt. Wenige Sekunden später vibriert mein Handy in der Hosentasche.
In der überfüllten Küche hole ich uns zwei Bier und führe sie hinaus in den Flur.
„Willst du mal das beste Zimmer im Haus sehen?“ frage ich. Sie nimmt mir ihr Bier ab und nickt begeistert.
Ich führe sie die Treppe hinauf bis in den ersten Stock, dann durch eine kleinere unscheinbare Tür, die wie ein Wandschrank aussieht, eine weitere Treppe nach oben in unseren Herrensalon. Hier sitzen die alten Herren oft, wenn sie vorbeischauen.
Als wir die letzten Stufen hinaufklettern, taste ich nach dem Lichtschalter. Als der Raum plötzlich erhellt wird, höre ich hinter mir ein geflüstertes „Wow“ und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Achtung, die Letzte Stufe ist höher als die anderen.“ Warne ich sie und greife nach ihrer Hand, um ihr zu helfen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken als ich ihre Hand in Meiner spüre. Schnell lasse ich sie wieder los, sobald wir oben angekommen sind.
Dieser Raum ist schöner als die Räume unten. Weil hier alles noch älter und noch wertvoller ist, lassen wir die Partygäste gar nicht nach oben. Verblüfft sieht sich Valerie in dem großen Dachgeschosszimmer mit kleinem Türmchen um. In der Mitte des Raumes stehen große schwere Eichenmöbel mit Echtlederbezug, die wahrscheinlich älter sind als meine Großmutter, und teurer als mein Leben.
Der Boden ist aus
altem Holzparkett, die Wände sind holzvertäfelt, doch durch die vielen hohen
gefüllten Bücherregale ist dies an einigen Stellen nicht zu sehen. An der Decke
ist stuck angebracht und Deckengemälde von biblischen Szenen schmücken die
leeren Stellen. Was aber am meisten imponiert, ist die mittelgroße gläserne
Dachkuppel, die man von der Straße vor dem Haus aus gar nicht sehen kann. Durch
die Kuppel sind die Sterne zu sehen. Es ist mittlerweile vier Uhr morgens. Bald
müsste die Sonne aufgehen.
Dies ist eine der letzten, klaren Septembernächte, bevor das Wintersemester
wieder beginnt.
An der linken Außenwand des Hauses ist ein Bodentiefes Fenster, das sich zu
einem Winzigen Balkon öffnen lässt. Ich winke Valerie zu mir herüber und öffne
die Tür. Gemeinsam lehnen wir uns an das Schmale, schmiedeeiserne Geländer und sehen
auf den Garten hinunter. Von hier oben kann man alle Studenten sehen, die dort
unten herumlaufen, trinken und feiern. Der Himmel am Horizont wird schon heller
und die ersten Vögel zwitschern unten im Garten.
„Hier ist es wirklich schön! Es muss toll sein, hier zu wohnen.“ Stellt Valerie fest. „Verstehst du dich gut mit deinen Mitbewohnern?“
Verlegen schaue
ich zur Seite.
„Naja, um ehrlich zu sein, bin ich die meiste Zeit im Labor. Es ist selten,
dass ich hierherkomme.“
Valerie lacht.
„Du warst schon immer eher der zurückgezogene Typ.“ Stellt sie fest. Ein
kleines Unbehagen breitet sich in mir aus. Sie war schon immer das genaue
Gegenteil von mir. Mutig, risikobereit, sozial aktiv und immer freundlich. Ich
habe nie verstanden, was sie damals bewogen hat, mit mir befreundet zu sein.
„Aber ich verstehe mich gut mit Aaron.“ Sage ich, um wenigstens nicht als kompletter Einzelgänger dazustehen. „Und natürlich meinen Laborkollegen.“
„Laborkollegen?“ fragt sie und zieht eine Augenbraue nach oben. „Hast du einen Hiwi Job?“
Ach, stimmt ja, wir haben uns seit zehn Jahren nicht gesehen und sie weiß nichts von mir.
„Oh, naja nicht so ganz… Ich bin Doktorand.“ Erzähle ich kleinlaut.
Valeries Augen
weiten sich.
„Was? Du- du bist kein Student?“
„Nachdem ihr weggezogen seid, habe ich zwei Klassen übersprungen, mein Abi gemacht und Biochemie studiert. Nach meinem Master habe ich mir hier eine Doktorandenstelle gesucht.“ Fasse ich kurz und knapp zusammen.
„Was? Wow, ich
weiß nicht, was ich sagen soll!“ Valerie scheint nach Worten zu suchen.
„Herzlichen Glückwunsch? Zum Abi. Zum Bachelor, zum Master…“ Sie zählt die
einzelnen Dinge an ihrer Hand ab.
„Nein nein nein nein nein nein!“ Unterbreche ich sie und schiebe ihre Hand nach unten. „Nicht alle Glückwünsche auf einmal!“ Valerie lacht schüchtern. „Ehrlich ich kann damit nicht umgehen!“ sage ich scherzhaft.
„Nagut!“ Sagt sie und ihre Augen leuchten. „Dann feiern wir heute Abend unser Abitur! Und die anderen Feiern heben wir uns für später auf!“ Ein breites Grinsen huscht über ihr Gesicht.
„Das ist die beste Idee, die ich je gehört habe!“ Sage ich wahrheitsgemäß. „Na dann“ Ich stoße mich vom Geländer ab und gehe zu einem der hohen dunklen Eichenholzschränke neben der Treppe. Dort oben im Schrank ist eine versteckte Minibar mit dem besten Champagner und Whiskey, den wir im Haus haben. Die alten Herren gönnen sich hier gerne den guten Stoff, und damit meine ich die richtig teuren Sachen. Ich kenne mich damit nicht aus, also nehme ich einfach irgendeine schick aussehende Champagnerflasche heraus und öffne sie, fülle zwei Gläser und reiche Valerie eins davon.
„Auf unser Abitur! Der beste Jahrgang, den es je gegeben hat.“ Ich erhebe mein Glas und Valerie stößt ihres sanft gegen meins. Ein zartes, gläsernes Klimpern ertönt und wir probieren beide die goldene Flüssigkeit.
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