Mein Handy klingelt und reißt mich aus dem Schlaf. Müde sehe ich auf die Uhrzeit im Display. Halb sieben. Ich stöhne innerlich. Es ist drei Tage her, dass wir die Weinflasche repariert haben und heute kommt der alte Herr: Dr. Kunkov, um sie abzuholen. Ich werde nicht da sein. Sobald ich kann, nehme ich mir vor, mich aus dem Staub zu machen. Außerdem habe ich heute ohnehin keinen Nerv, um mich damit zu beschäftigen, weil heute der Kinoabend mit Valerie und ihrer Freundin (wie hieß sie noch gleich?) stattfindet.
Ich entdecke den Grund, warum mein Telefon mich um diese absolut inhumane Uhrzeit geweckt hat: eine automatische Nachricht von Meinolf, unserem Laborroboter. Er hat den letzten Zyklus über Nacht fertiggestellt.
Stöhnend rolle ich mich aus dem Bett. Ich muss ins Labor und das System wechseln. Schnell schnappe ich mir einen Satz Wechselklamotten, Zahnbürste und Katzenfutter, bevor ich mit meinem Kater aus dem Verbindungshaus verschwinde.
Im Institut benutze ich die Mitarbeiterduschen im Keller. Hier hat man immer seine Ruhe und mein Bademantel hängt noch immer an derselben Stelle wie letzte Woche: ein Zeichen, dass außer mir und Gerti, der Putzfrau, nie eine Menschenseele hier vorbeischaut. Entspannt, frisch geduscht und mit Zahnbürste im Mund schnappe ich mir einen der Joghurts aus dem Mitarbeiterkühlschrank und ziehe mich, noch immer in Hausschuhen und Bademantel in mein Labor zurück.
Henry hat mir eine Nachricht hinterlassen: ein Notizzettel, der an unserem Roboter klebt und mich darüber informiert, dass unser Doktorvater mit uns sprechen will. Was er wohl von uns möchte? Abgesehen von ein paar dutzend gebrochenen Laborregeln wüsste nicht, dass wir etwas angestellt haben. Wenn überhaupt, sind wir mit unserer Grundlagenforschung dem Zeitplan meilenweit voraus, was er definitiv unserer Automatisierungsstrategie zu verdanken hat. Grübelnd entnehme ich das alte Schlauchsystem aus dem Roboter und spanne ein Neues ein. Grundlagenforschung ist so ziemlich das Langweiligste, was ich mir vorstellen kann. Da wir so gut im Zeitplan liegen, überlege ich, mal etwas Neues auszuprobieren. Es gibt noch keine neuen Anweisungen vom Professor und Ich muss sowieso den Tag im Labor irgendwie herumkriegen.
Seit einiger Zeit überlege ich, mit Henry am Molbi-Tech Wettbewerb teilzunehmen: der alljährliche, internationale, Molekularbiologische Wettbewerb, an dem mehrere Teams aus verschiedenen Instituten der Welt teilnehmen und neue Molekularbiologische Verfahren oder Projekte vorstellen.
Watson springt auf den Schreibtisch und kratzt über einen der Collegeblöcke, die darauf herumliegen. Ah- sein Zeichen dafür, dass er neues Wasser will.
Schmunzelnd nehme ich Watson auf den Arm und kraule ihn kurz hinterm Ohr, bevor ich ihn wieder auf der Fensterbank absetze. Dort nehme ich die einzige Pflanze, die ich besitze: normale Petersilie, mitsamt dem Plastiktopf aus dem Blumentopf, sodass er das schmutzige Blumenwasser trinken kann. Für mich ekelhaft, doch für Watson eine Delikatesse! Egal wie oft ich ihm frisches Wasser aufstelle, er will immer nur dreckiges Blumenwasser.
Grübelnd beobachte ich ihn beim Trinken. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke: nach jedem Trinken legt er sich kurz zum Schlafen hin, wacht dann nach ein paar Stunden auf und putzt sein Fell. Könnte es sein, dass…?
Plötzlich kommt mir eine Idee, mit der ich mir den heutigen Tag vertreiben kann: Ich besorge mir ein paar sterile Stäbchen aus dem Labor und mache mich an die Arbeit.
Ein paar Stunden später stehe ich mit den gekauften Kinokarten vor dem Uni-Hauptgebäude und warte auf die anderen. Es dauert nicht lange, bis auch Aaron auftaucht. Er hat sich ein schickes Hemd angezogen und wirft mir mit meiner schwarzen Strickjacke über dem schwarzen Shirt und der Schwarzen Hose einen angewiderten Blick zu.
„Alter, hättest du dir nicht mal für heute etwas Ordentliches raussuchen können?“ fragt er frustriert.
Ich sehe verunsichert an mir herunter. „So schlimm?“
„Ich dachte du meinst es ernst mit der Kleinen, aber ich scheine mich geirrt zu haben, wenn du nicht mal an einem Tag wie heute etwas Vernünftiges anziehst.“
Eine leichte Welle der Panik überkommt mich. „Aber Ich habe nichts anderes!“ verteidige ich mich.
Aaron zieht skeptisch eine Augenbraue nach oben. „Du willst mir erzählen, du besitzt kein einziges nicht-schwarzes Kleidungsstück?“
„Naja… Ich hab ein paar rote Socken…“
Aaron schlägt sich frustriert die Hand vor die Stirn. „Sorry, alter, aber es ist seltsam, wenn du so rumläufst.“ Er beginnt, sich das Hemd aufzuknöpfen. „Gib mir deine Jacke,“ fordert er mich auf.
„Was?!“ frage ich entsetzt. „Warum ziehst du dich aus?!“
„Wir tauschen wenigstens die Oberteile. Es ist sonst einfach nur peinlich, mit dir gesehen zu werden!“ presst Aaron hervor. Ich will etwas Trotziges erwidern, doch in diesem Moment hält eine Straßenbahn vor der Universität. Da müssten die Mädchen drin sein, wenn sie pünktlich sind. Ein ungutes Gefühl überkommt mich und der Drang, Valerie zu gefallen überwiegt den Drang, Aaron ins Gesicht zu spucken. Also überlege ich es mir anders und reiße mir schnell die Strickjacke vom Leib.
„Na geht doch!“ Sagt Aaron bewundernd, als ich, zum ersten Mal in meinem Leben ein weißes Hemd über meinem Shirt trage, obwohl ich weder einer Hochzeit, noch einer Beerdigung beiwohnen muss.
Ihm steht die schwarze Strickjacke über dem weißen T-Shirt ziemlich gut. Ich selbst fühle mich im Hemd etwas unwohl, doch es ist zu spät, darüber nachzudenken. Die Mädels sind da.
„Hey, wie
geht’s?“ fragt Valerie und umarmt mich schon wieder aus heiterem Himmel. Mein
Herz bleibt fast stehen, als ich den Duft ihres Shampoos wahrnehme. Wenn das so
weitergeht, werde ich vor meinem dreißigsten Lebensjahr an einem Herzinfarkt
sterben.
Ich erwidere die Umarmung und nehme mir prophylaktisch vor, weniger
Energydrinks zu trinken. Es wäre viel zu schade, früh zu krepieren, wenn ich
tatsächlich Valerie in meinem Leben hätte. Wie, wenn man seinen Lieblingsfilm in
Zeitraffer ansieht, nur weil einem das Intro nicht gefallen hat.
„Gut, Danke. Und euch?“ frage ich und nicke ihrer Freundin: (wie hieß sie noch mal?) Zu.
„Hey, wie geht’s?“ Aaron streckt der rothaarigen die Hand hin, die sie skeptisch ansieht.
„Bist du nicht der Typ vom Schachduell?“ fragt sie und mustert Aaron argwöhnisch. Schnell drehe ich mich zu Valerie um, bevor ihre Freundin mich ebenfalls genauer anschauen kann.
„Welches Schachduell?“ fragt Aaron gespielt unschuldig und grinst breit, bevor er den Arm zurückzieht. „Ich bin Aaron.“
Oh Gott, wie peinlich. Er will also so tun, als ob sie sich noch nie gesehen hätten?! Ich glaube nicht, dass sie darauf hereinfällt.
„Yara.“ Gibt sie knapp zurück.
„Wollen wir dann?“ frage ich und danke Gott, dass es bereits dunkel ist, sodass man mich schlechter erkennen kann als bei Tageslicht.
Nur wenig später sitzen wir zusammen im größten Hörsaal der Uni, in dem der Kinofilm ausgestrahlt werden soll. Valerie hat den Film: Shrek ausgesucht. Eine super Wahl, meiner Meinung nach. Ich liebe den Film!
Ein paar Studenten, inklusive Aaron, stehen an der Popcorn Schlange, während wir darauf warten, dass der Film beginnt.
Vor dem Film treten zwei Studenten vor das Pult und begrüßen alle Zuschauer. Jeder Kinogast soll seine Eintrittskarte nach einer Nummer absuchen. Eine Nummer wird ausgelost und bekommt einen Preis. Yara wird überraschenderweise ausgesucht und schon heitert sich ihr grimmiges Gesicht ein wenig auf. Als sie nach vorne geht, um sich vorzustellen und ihren Preis abzuholen, bleibe ich mit Valerie allein zurück. Jackpot!
„Danke für die Idee mit dem Uni-Kino.“ Sagt Valerie begeistert. „Yara scheint es schon so viel besser zu gehen, seit wir heute mal die Wohnung verlassen haben!“
„Gern geschehen.“ Antworte ich schmunzelnd. „Studiert ihr zusammen?“
Valerie schüttelt den Kopf. „Ich studiere Biologie im dritten Semester und bin von Dortmund hier hergewechselt. Yara habe ich zufällig wiedergetroffen, seitdem wohnen wir in einer WG und machen wieder viel zusammen.“
„Ah! Biologie!“ Ich hatte mich schon gefragt, was es wohl ist, was sie studiert- Ich bin so froh, dass sie nicht Soziale Arbeit gesagt hat! Ich ziehe es vor, wenn mein Gegenüber versteht, wovon wir reden.
„Yara studiert soziale Arbeit.“ Erklärt sie völlig wertungsfrei. Sofort laufe ich rot an und schäme mich für meinen Gedanken. Wo kommen nur diese Vorurteile her?! Liegt vielleicht generell an den Leuten vom Gucci-Campus. Mein Wissenschaftlicher Campus ist mir da um ein Vielfaches lieber, mit all den Chinesen und Strebern- und natürlich Valerie!
„Und- wie gefällt die Biologie?“ frage ich neugierig. „Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“
Valerie nickt begeistert. „Es ist noch viel besser! Ich finde es toll, dass man so viele Praktika hat und tatsächliche Labor-Fertigkeiten lernt und nicht nur Hausarbeiten schreibt!“
Nachdenklich nicke ich mit dem Kopf. „So habe ich nie darüber nachgedacht, wenn ich meine Praktika nervig fand, aber du hast Recht. Obwohl ich finde, dass die allerwichtigste Fertigkeit in diesem Studium viel zu kurz kommt.“
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