Überrascht sehe ich zu ihr herüber. Watson nutzt meine kurze Unaufmerksamkeit zu seinem Vorteil, um die kleine Packung Leckerli aus meiner Hand zu reißen und damit unter dem Sofa zu verschwinden.
„Oh! Dieser kleine Racker!“ Valerie versucht, ihn zu schnappen, doch er ist zu schnell und flutscht ihr geradewegs durch die Hände.
„Keine Chance“ versichere ich ihr. „Dieser Kater ist flüssig. Wenn er nicht gefangen werden will, dann kriegt man ihn auch nicht zu fassen.“
Kopfschüttelnd lehnt sich Valerie zurück und betrachtet die Zimmerdecke.
„Du willst also Nachhilfe von mir?“ frage ich, nur um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstanden habe.
„Ja, also…“ sie sieht vorsichtig zu mir herüber, „wenn es dir nicht zu viele Umstände macht?“
Mit rotem Kopf meide
ich ihren Blick. Nachhilfe? Wow, ich fühle mich geehrt! so könnte ich mehr Zeit mit Valerie verbringen
und müsste mir nicht immer Gedanken machen, wie ich sie nach einem Treffen
frage…
„Nein, überhaupt nicht! Ich gebe dir gern Nachhilfe!“
„Wirklich?“ Valerie setzt sich ruckartig auf. „Das würdest du tun?“
„Klar!“ Ich räuspere mich, weil meine Stimme plötzlich heiser geworden ist.
„Wow, Danke!“ Bevor ich ahne, was passiert, umarmt sie mich wieder. Nervös erwidere ich ihre Umarmung. Mein Herz klopft plötzlich so schnell, dass ich Angst habe, es könnte ins Kammerflimmern übergehen. Oh Gott, gibt es eigentlich Defibrillatoren in diesem Gebäude? Vielleicht sollte ich mich auf dem Rückweg mal vorsichtshalber nach Einem umsehen…
Die Umarmung dauert ein paar Sekunden zu lange, um nicht mehr seltsam zu sein. Als die Zentrifuge einen Piepton von sich gibt, fahren wir schnell auseinander.
„Oh, scheint so, als wäre deine Zentrifuge fertig.“ Bemerkt Valerie leise. Ich nicke und fahre mir mit zitternden Händen durch das Haar, in der Hoffnung, dass sie meinen Tremor nicht mitbekommt. Wie peinlich! Ist das der Calcium Mangel, der Alkohol, oder liegt es an meiner ersten weiblichen Gesellschaft in diesem Labor, die keine Kollegin ist?
„Jetzt fehlt nur noch die Fotometrische Messung.“ Überlege ich laut.
„Den Reinheitsgrad bestimmen?“ fragt Valerie neugierig und schaut über meine Schulter, als ich die Röhrchen in unserem Roboter einspanne. Meinolf entnimmt jeder Probe ein paar Microliter und füllt sie in Küvetten um, wo er sie mit Puffer verdünnt.
„Jep. Morgen werden sie eingeschickt. Dann dauert es ein paar Tage mit der Sequenzierung und dann wird die CMg-Pipeline für die Auswertung getestet.“ Erkläre ich ihr. „Das sind ein paar hintereinandergeschaltete Computerprogramme mit denen ich die Erreger identifizieren kann. Dafür gibt’s gute Tools als Freeware.“
Valerie nickt begeistert. „Das ist so cool!“ flüstert sie.
Wow. Mein Herz klopft sogar noch schneller als eben schon. Wie ist das überhaupt möglich?! Sie ist die erste Frau, die überhaupt irgendetwas, was auch nur im Entferntesten mit mir zu tun hat, als cool bezeichnet!
„Schön, dass du es spannend findest.“ Murmele ich leise, während ich Meinolfs Programm für die Fotometrische Auswertung starte, dass ich heute vormitttag noch geschrieben habe.
Die Auswertung erfolgt innerhalb weniger Sekunden und die Werte erscheinen in meinem Computermodell.
„Sieht gut aus.“ Bemerke ich zufrieden. „Kann man einschicken.“
Valerie nickt und sieht zu, wie ich die Röhrchen verschließe und in einem Kühlschrank lagere.
Als wir in die Bar zurückkehren, sind Yara und Aaron wie vom Erdboden verschluckt. Keiner der anwesenden Gäste hat sie gesehen, doch als Georg, der Ladenbesitzer bemerkt, wen wir suchen, zeigt er genervt auf eine Tür, die nicht zur Toilette führt.
„Da drin. Ich hoffe ihr nehmt sie endlich mit nach Hause. Ich habe nur eine Ausnahme gemacht, weil Aaron hier Stammgast ist.“
Seine Worte verursachen ein schlechtes Gefühl in meiner Magengrube. Was zur Hölle ist passiert während wir weg waren? Nervös folge ich ihm zu der schmalen Tür. Georg verschwindet sofort wieder. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Als ich die Tür schließlich öffne, erwischen wir Aaron und Yara in Flagranti beim Rumknutschen. Vielleicht sogar mehr, wenn man danach urteilt, wie ihre Haare in alle Richtungen abstehen. Die Beiden sind so in ihre Sache vertieft, dass ich nicht beurteilen kann, ob sie unsere Präsenz bemerkt haben, oder nicht.
Erschrocken knalle ich die Tür wieder zu und werfe Valerie einen alarmierten Blick zu.
Sie bricht in schallendes Gelächter aus und winkt mich ein Stück weiter weg. Dort setzt sie sich an den Tisch, der der kleinen Kammer am nächsten ist.
„Ich glaube, sie hatten etwas zu viel von dem starken Cocktail…“ bemerkt sie kichernd.
„Wow.“ Bemerke ich trocken. „Einfach nur Wow.“ Unschlüssig, was ich tun soll, lege ich meine Hände auf den Tisch und starre auf meine Finger. Was zur Hölle hat Aaron mit Yara angestellt?! Horrorszenarien breiten sich in meinem Kopf aus. Er wird ihr doch keine seltsamen Pillen verabreicht haben um sie rumzukriegen, oder? Unwillkürlich balle ich meine Hände zu Fäusten.
Valerie prustet los. „Das ist Yara, wie sie leibt und lebt.“ Ich sehe verwirrt auf.
„Ernsthaft? Sie kennt den Typen doch gar nicht richtig.“
Schulterzuckend lehnt sie sich zurück. „Vielleicht will sie nur ihren Exfreund vergessen.“
Nervös sehe ich herüber zur Abstellkammer. „Aber… was, wenn sie es morgen bereut?“
„Ich schätze, daran werden ein paar Minuten mehr oder weniger jetzt auch nichts mehr ändern…“ antwortet sie.
Nachdenklich sehe ich auf meine Hände. Wo sie Recht hat, hat sie Recht.
„Also? Was machen wir jetzt?“ frage ich und linse mit einem Auge vorsichtig zu ihr herüber. „Holen wir sie da raus? Oder…“ mir fällt keine Alternative ein, angesichts der Tatsache, dass uns Georg, der Barmann bereits gebeten hat, sie mit nach Hause zu nehmen.
„Also, wie wäre es, wenn wir zweimal Wasser zum Mitnehmen bestellen und dann die beiden in den Park mitnehmen?“ schlägt Valerie kichernd vor. „Mit etwas frischer Luft und Wasser nüchtern sie sicher schneller aus.“
Ich nicke nervös. Valerie kennt Yara am besten. Und ich habe von Aaron nicht den leisesten Schimmer. Ich weiß noch nicht mal, wieviel Alkohol er verträgt. Aber wieviel können die zwei in unserer Abwesenheit schon getrunken haben?!
***
Es war kein Spaß,
die Zwei Turteltäubchen aus der Besenkammer herauszuholen. Umso weniger spaßig
war es, mit ihnen in den Park zu gehen, wo sie sich beide gleichzeitig
übergeben mussten, was bestimmt zum Tod einiger, seltener Geophyten hier
geführt hat. Der kleine Giftpflanzengarten hier wurde extra herangezüchtet, um
den Pflanzen- und Biotechnologen etwas beizubringen.
Ich hoffe inständig, dass uns hier keiner gesehen hat, aber ich schätze, die
wirklich wichtigen Pflanzen werden in den Gewächshäusern gezogen.
Gott sei Dank, hat Aaron kein langes Haar, was ihm aus dem Gesicht gehalten werden muss. Im Gegensatz zu Yara. Mir tut Valerie echt leid, die sich in diesem Moment damit herumschlagen muss. Ich habe mich in sicherer Entfernung auf einer Parkbank niedergelassen und hüte unsere Rucksäcke und Handtaschen.
Aaron kehrt nach zehn Minuten völlig fertig zu mir zurück. Wortlos lässt er sich neben mir auf die Bank fallen und stützt sein Gesicht mit den Händen ab.
„Uuuuuuuuuggghhh“ presst er hervor.
Angewidert stecke ich ihm ein Taschentuch zu und rücke ein Stück von ihm ab.
„Dieses Mädchen kann trinken…“ murmelt er kaum hörbar, bevor er sich mit dem Tuch das Gesicht putzt.
„Was zur Hölle habt ihr in der halben Stunde getan, in der wir weg waren?!“ frage ich, doch überlege es mir gleich wieder anders: „halt, warte, das war eine rhetorische Frage, ich will es wirklich nicht wissen.“ Füge ich schnell hinzu, nachdem mir das Bild von den Beiden in der Besenkammer wieder in den Sinn gekommen ist.
„Pfffft...“ Lacht Aaron sarkastisch. „eine halbe Stunde?“ er wirft mir einen zweifelnden Blick zu. „Eher anderthalb Stunden!“
Etwas stutzig lehne ich mich zurück. Waren wir wirklich so lange in meinem Labor? Es hat sich nicht so lange angefühlt… Aber jetzt, wo ich so darüber nachdenke: das Zentrifugieren und die Messung der optischen Dichte müssten auch etwas gedauert haben…
In diesem Moment kommen die Mädchen aus dem Gebüsch hervor, Yara ist total weggetreten. Valerie hat sich ihren Arm um die Schultern gelegt und stützt sie wie einen verletzten Soldaten im Schützengraben.
„Wir müssen gehen.“ Sagt Sie besorgt. „Yara muss sich hinlegen.“
„Ich helfe dir.“ Sagt Aaron und springt auf. Ich will ihn an einem Arm zurück halten, doch er ist schneller als ich, taumelt ein paar Schritte zu weit nach rechts und landet, mit dem Hintern zuerst, in einem kleinen Frosch-Teich.
Für einen Moment bleiben alle mucksmäuschenstill. Dann pruste ich los.
„Shit!“ Flucht Aaron und patscht beleidigt mit den Händen in das Knietiefe Wasser um ihn herum. Ich lache noch lauter.
„Oh je, hast du dir wehgetan?“ fragt Valerie besorgt. Yara hat von alledem nichts mitbekommen.
Mein Lachanfall will einfach nicht enden. Man, wann hatte ich zum letzten Mal so viel Spaß wie heute? Das muss schon Jahre her sein! Gut gelaunt trete ich an den Teich heran und reiche Aaron meine Hand, der sie beleidigt ergreift.
„Wie schön, dass du das lustig findest.“ Knurrt er. „Warts nur ab, bis DU mal so richtig blau bist.“ Fügt er drohend hinzu und klettert aus dem Gewässer.
Tropfnass und zitternd steht er vor uns auf der Wiese.
„Keine Sorge, Kumpel.“ Beruhige ich ihn, was das angeht. „Meine Alkohol-Dehydrogenasen sind weit über dieses Level hinaus.“ Hämisch grinsend klopfe ich ihm auf die Schulter und schnappe mir unsere Taschen von der Parkbank. „Lasst uns zum Verbindungshaus gehen. Aaron kühlt sonst aus. Und Yara muss sich hinlegen.“ Ich werfe Valerie einen ernsten Blick zu. „Wie weit ist es bis zu eurer Wohnung?“
Valerie schüttelt den Kopf. „Zu weit. Wir haben die letzte Bahn verpasst.“
„Kommt mit zu uns.“ Schlage ich vor. „Ihr Mädels könnt sein Zimmer haben.“ Ich deute auf einen tropfnassen Aaron, der wie ein schwankender, nasser Hund vor uns hertrottet. „Stimmt´s, Aaron?“ Besagter Hund dreht sich zu uns herum und nickt knapp.
„Ich nehme ihn mit zu mir.“
„Danke.“ Valerie lächelt erleichtert. „Bist du wirklich sicher?“
„Ja. Sein Zimmer ist ohnehin größer und ordentlicher als meins. Da habt ihr es sicher gemütlicher.“ Gestehe ich meine schlechte Angewohnheit zu Chaotischer Haushaltsführung ein.
***
Der nächste Morgen knallt ordentlich rein. Wortwörtlich, denn um kurz vor sieben landet eine von Aarons Fäusten klatschend in meinem Gesicht. Panisch schrecke ich aus dem Schlaf hoch und balle die Fäuste, um mich zu verteidigen, als mir klar wird, dass er sich nur im Bett herumgedreht, und mir dabei versehentlich eine gescheuert hat.
Frustriert seufzend schwinge ich mich aus dem Bett. Mein Herz ist jetzt sowieso zu aufgewühlt, um noch einmal einzuschlafen. Müde, mit zerzaustem Haar und Zahnbürste im Mund sehe ich mich im Zimmer um. Wenigstens hat Aaron nicht nochmal gekotzt. Erleichtert schnappe ich mir Handtücher und Seife und springe unter die Dusche in den Gemeinschaftsbadezimmern auf unserer Etage.
Puh. Ein herrliches Gefühl, sich den Dreck und den Alkohol vom vergangenen Abend abzuwaschen. Nachdem wir letzte Nacht zwei völlig komatöse, und/oder schwankende Personen die Treppe heraufgehievt haben, habe ich mich nur knapp von Valerie verabschiedet und bin dann fix und fertig ins Bett gefallen. Seltsam. Und das, obwohl ich noch nicht einmal annähernd betrunken war! Ich schätze, emotionale Anspannung macht ebenso müde, wie harte körperliche Arbeit.
Mit einem Handtuch um die Hüften und einem Anderen über den nassen Haaren, kehre ich beschwingt auf den Flur zurück, wo ich mit etwas Kleinem zusammenstoße. Verwirrt nehme ich das Handtuch aus dem Gesicht.
„Adrian?“ fragt Valerie müde. Erschrocken bedecke ich meinen Oberkörper und taumele ein paar Schritte zurück.
Comments (0)
See all