Kapitel 4: Der Wissenschaftliche Wettbewerb
„Valerie?“ Ich mustere sie für einen kurzen Moment. Sie trägt noch immer eins meiner T-Shirts und eine der kurzen Jogginghosen, die ich ihr gestern Nacht geliehen habe. Oh mein Gott. Zu viel nackte Haut! Ich versuche krampfhaft, nicht auf ihre Beine zu starren, sondern ihr, wie ein Gentleman in die Augen zu sehen. Schon wieder wird mein Gesicht glühend rot. „Was machst du so früh am Morgen hier? Wolltest du nicht ausschlafen?“ frage ich heiser.
Sie schüttelt den Kopf. „Wenn ich Alkohol getrunken habe, wache ich immer früher auf als sonst.“ Sie lächelt verlegen. „Hast du vielleicht Etwas zu trinken?“
„Klar! Lass mich nur kurz ein paar Klamotten anziehen.“ Ich nicke ihr zu und verschwinde kurz in meinem Zimmer. Nach einem schnellen Blick auf Aaron, der brav in der stabilen Seitenlage liegen geblieben ist, kehre ich auf den Flur zurück. Valerie hat sich inzwischen im Bad frisch gemacht.
„Lass uns runtergehen und frühstücken.“ Schlage ich vor. „Die zwei Schnapsleichen müssen erstmal ihren Rausch ausschlafen.“
Doch in der Küche einer Studentenverbindung geht es anders zu, als bei normalen Menschen. Sobald wir den Raum betreten, schnappe ich gerade noch rechtzeitig Valeries Arm, bevor sie in einer großen Bierpfütze ausrutscht. Mich überrascht hier nichts mehr. Der Boden ist klebrig, die Wände fleckig von den vielen Eskapaden auf Partys und zwei-drei betrunkene Studenten hängen selbst um sieben Uhr morgens noch hier herum. Gestern Nacht scheinen die Anderen schon wieder ein Gelage veranstaltet zu haben. Typisch Semesterferien.
Justus, einer meiner Mitbewohner steht am Herd und scheint irgendetwas in einer Pfanne zuzubereiten. Zwei andere sind tief über ein Schachbrett auf dem Esstisch gebeugt. Bei näherer Betrachtung fällt mir jedoch auf, dass sie sich nicht auf ihr Schachspiel konzentrieren, sondern sitzend eingeschlafen sind. Valerie versucht vergebens, sich ein Grinsen zu verkneifen.
„Ja, ja… so sieht es morgens bei uns aus.“ Erkläre ich achselzuckend. „Nicht der einladendste Ort, aber ich wohne sowieso praktisch im Labor.“
Justus dreht sich, mit der Pfanne in der Hand, zu uns um und präsentiert sein Gericht.
„Na, ihr süßen! Habt ihr Lust auf Kaiserschmarn?“
Valerie und Ich werfen uns einen fragenden Blick zu.
„Kaiserschmarn?“ fragt Sie, um sicherzugehen, dass sie sich nicht verhört hat. Justus kommt ungehemmt auf sie zu und schwingt den Arm um ihre Schulter.
„Ja, mein Schätzchen! Kaiserschmarn! Frühstück ist fertig!“ Trällert er und zwinkert ihr zu. Valerie weiß nicht, was sie darauf antworten soll.
„Bist du bekifft?“ frage ich argwöhnisch und entziehe Sie seinem Arm. Justus hebt abwehrend die Hand.
„Oh, bitte! Über dieses Stadium bin ich weit hinaus! Ich hatte eine Vision!“ Er drückt mir verschwörerisch die Pfanne in die Hand, bevor er zwei Teller und Besteck aus dem Schrank holt, welches er Valerie reicht. „Geht zum Picknicken in den Garten. Ich brauche hier drin meine Ruhe. Ich muss an einer neuen Theorie arbeiten!“
Er schiebt uns zur Balkontür und kehrt dann wieder an seinen Arbeitsplatz zurück. Valerie tritt brav hinaus in den Garten und stellt die Teller auf einem der Tische draußen ab.
Ich stecke noch einmal den Kopf zur Tür herein. „Was für eine Theorie?“ frage ich neugierig.
„Die Mathematik ruft mich!“ erklärt Aaron. „Leute wie du können das nicht verstehen!“ Dann macht er sich wieder am Herd zu schaffen.
„Ähm… Okay?“ Ich überlege kurz. „Willst du mit uns frühstücken?“
Justus schlägt wütend mit der Faust auf den Küchentresen. „Du verstehst es einfach nicht!“ ruft er aufgebracht. „Ich habe keine Zeit zum Frühstücken!“ Er betont das letzte Wort wie ein Schimpfwort. „Kochen ist Mathematik! ALLES IST MATHEMATIK!“ Mit diesen Worten wirft er den Pfannenwender in die Spüle und verschwindet aus der Küche. Ich höre nur noch, wie eine Tür laut zuknallt, was die zwei Schach-schnarchnasen prompt aus dem Schlaf hochschrecken lässt.
Bevor ich in Erklärungsnot komme, beschließe ich, Valerie nicht länger warten zu lassen.
„Iss das lieber nicht.“ Rate ich ihr. „Der Typ ist komplett hinüber. Wer weiß, was der da reingetan hat.“ Ich stelle zwei Softdrink Dosen auf den Tisch und lasse mich neben ihr nieder. „Wenn du Hunger hast, können wir was bestellen oder irgendwo essen gehen.
„Ehrlich gesagt habe ich Riesen Hunger.“ Gibt sie lächelnd zu.
Wir hinterlassen Yara und Aaron zwei Sticky-Notes an der Tür, auf denen wir ihnen erklären, dass wir auf Nahrungssuche gehen, bevor wir uns zwei alte Damenräder aus dem Verbindungshaus leihen und das nächste Lokal ansteuern.
Ein paar ausnüchternde Studenten sitzen an den kleinen Tischen in Dana´s Gewächshaus, ein kleines Hipster-Lokal, in der es viel veganes und vegetarisches zu Essen gibt. Es war das Nächste, was wir hier gefunden haben.
„Yara schläft sicher noch zwei Stunden.“ Hatte Valerie gesagt, weshalb wir uns ein riesiges Frühstück zu zweit an unseren Tisch bestellt haben. Was Aaron vermutlich tun wird, weiß ich nicht, doch es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Der Kerl ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.
Bei der Erinnerung daran, wie er, völlig betrunken in den Teich fällt, pruste ich los.
„Was ist so lustig?“ fragt Valerie.
„Aaron ist in den Teich gefallen.“ Erkläre ich lachend. Valerie bestreicht sich grinsend ein Brötchen mit irgendeiner veganen Marmelade oder so. Ich kenne nichts von diesem Zeug aber ich beschließe, mein Glück mal mit einem weiß-grün gesprenkelten, cremigen Brotaufstrich zu versuchen. Shit… Ich wünschte hier gäbe es Rührei mit Bacon…
„Ich wette, das passiert hier öfter.“ Sie schmunzelt.
„Du hast ja keine Ahnung.“ Ich nehme einen Bissen von dem weißen Zeug und verziehe das Gesicht.
Valerie sieht mich belustigt an. „So schlimm?“
Ich nicke und würge das Zeug widerwillig herunter. Wer zur Hölle hat sich einen Brotaufstrich mit Brokkoli ausgedacht?!
„Shit ich dachte, das ist Lauch!“ Ich lege das Brot zurück auf den Teller schiebe ihn angeekelt ein Stück von mir weg. Valerie lacht ein melodisches Lachen. Ein Lachen, das mir seit unserer Kindheit vertraut ist und dessen Melodie ich unglaublich lange vermisst habe. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr.
Zufrieden sehe ich ihr dabei zu, als plötzlich ein Typ von einem anderen Tisch aufsteht und zu uns herüberkommt.
„Valerie?“ fragt er neugierig und sieht sie auf eine seltsame Art an.
Valeries Lachen friert ein und sie dreht sich langsam herum. Der fremde Typ legt eine Hand auf ihre Stuhllehne und lächelt sie an. „Ich dachte mir doch, dass mir dieses Lachen bekannt vorkommt!“
„Hi.“ Sagt Valerie lächelnd, doch ihr lächeln ist anders als sonst. Wahnsinn. Selbst nach all den Jahren kann ich immer noch ihr Echtes von ihrem Höflichkeitslächeln unterscheiden.
„Was machst du hier?“ Fragt der Typ und würdigt mich keines Blickes. Meiner Meinung nach sieht er aus wie ein typischer BWL-Student. Vermutlich angesagte Klamotten (ich habe ja keinen Plan von sowas) und ein Ego, das man dringend in ein Abnehm-Bootcamp schicken müsste. Interessiert lehne ich mich mit meinem Kaffee in der Hand im Stuhl zurück und beobachte das Schauspiel.
„Ähm…“ Valerie sieht kurz zu mir herüber und dann wieder zu ihm. „Ich esse mit meinem Freund.“
„Deinem Freund?“ Der Typ zieht eine Augenbraue hoch und wirft mir einen abschätzenden Blick zu. Doch ich kann ihn nicht erwidern. Ich bin dabei, mir die Seele aus dem Leib zu husten, weil ich mich verschluckt habe.
„Alles in Ordnung?“ fragt Valerie besorgt.
Ich nicke und huste weiter. Der Typ geht einen Schritt zurück und schüttelt angeekelt den Kopf. Schnell schnappe ich mir eine Serviette. Gott, ist das Peinlich. Hätte sie mich nicht vorwarnen können?!
„Geht’s, alter?“ presst der Typ hervor.
Ach! Auf einmal beschließt er doch, meine Präsenz anzuerkennen?
„Also…“ Er zeigt ungläubig mit dem Finger zwischen uns beiden hin und her. „Ihr zwei seid zusammen?“
Ich habe mich gerade wieder zusammengerissen und halte mir die Serviette vor den Mund, als Valerie mich hilfesuchend ansieht. „Jep.“ Bringe ich heiser hervor und nicke.
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