„Du gibst vor, ihr Freund zu sein?“ fragt Henry in einem ungläubigen Ton.
„Wie zur Hölle konnte das Ganze denn in DIESE Richtung eskalieren?! Ich dachte, das wäre so ein stiller kleiner einseitiger Crush von dir?!“ Er klappt seinen Laptop zusammen und leert seine Bierdose in einem Zug. Ich antworte nicht, doch Henry kann meine Gedanken lesen.
„Oh man, sie will sich die anderen Typen vom Hals halten?“ fragt er misstrauisch. „Das ist echt mies.“
„Nein, so ist sie nicht…“ widerspreche ich automatisch, während ich meine Sachen zusammenpacke. „Sie wollte es vorher aufklären, aber ich habe sie davon abgehalten, ich…“
„-bin Masochist?“ vollendet Henry meinen Satz. „-ein Idiot? -verzweifelt?“ schlägt er als Alternativen vor und schon fühle ich mich noch ein wenig beschissener. Warum zur Hölle habe ich mich nur damit einverstanden erklärt?!
„Ein Nachhilfelehrer, hast du vergessen.“ Vollende ich seine überaus treffende Bezeichnung meines aktuellen, verzweifelten Zustands.
„Nein. Wirklich?“ fragt er, mit einer vor Mitleid triefenden Stimme. „Oh Mann. Wir müssen eine neue Notfallkiste besorgen…“
Das Schlimmste ist, dass, obwohl ich eigentlich weiß, wie erbärmlich ich bin, ich nicht mal etwas dagegen habe, ihr kleiner Schoßhündchen-Fake-Freund zu sein. Im Gegenteil: neben meinem logisch denkenden, und sich momentan betrogen fühlenden Belohnungszentrum, ist noch ein weiteres kleines Hirnareal, das sich die vielen möglichen, positiven Outcomes aus dieser Situation auf einer Mentalen Kinoleinwand ansieht und dabei verliebt Popcorn in sich hineinschaufelt.
Seufzend gestehe ich mir ein, dass ich noch immer Gefühle für sie habe. Oder wieder. Oder… Ach was weiß ich?! Ich bin ein Idiot. Ein selbstzerstörerischer, hirnloser Idiot.
„Du hast jetzt keine Zeit, in Selbstmitleid und Oxytocin zu baden.“ Erinnert mich Henry, der mein Gefühlschaos erschreckend genau analysiert hat. „Wir haben ein Meeting mit unserem Prof.“
***
„Ich mache eine Reise.“ Erklärt Professor Helmboldt, kaum dass wir uns vor seinem Schreibtisch niedergelassen haben.
„Eine Reise?“ fragt Henry ungläubig. Wir beide haben noch nie mitbekommen, dass unser Doktorvater auch nur Urlaub genommen hat.
„Ich besuche einen Wissenschaftskongress in Chicago.“ Erklärt er nüchtern. „Gleich danach eine Molekularbiologische Messe in Japan. Meine Frau hat Wind davon bekommen und will mitkommen.“ Mürrisch schlägt er mit der flachen Hand auf den Holztisch, was uns beide erschrocken zusammenfahren lässt. „Und als wäre das nicht genug will sie einen Monat Weltreise hinten dranhängen.“
Ich und Henry werfen uns alarmierte Blicke zu. Eine Weltreise?! Unser Professor Helmboldt?!
„Ähm…“ Henry kommt nicht zu Wort, den Professor Helmboldt haut wieder mit der Faust auf den Tisch.
„Wir waren seit fünf Jahren auf keiner Reise mehr. Wenn ich mir eine Scheidung vom Hals halten will, muss ich diesen Urlaub mit meiner Frau machen!“
Wieder sagt keiner von uns ein Wort. Ich nicke nur knapp.
„Dann, woran sollen wir in ihrer Abwesenheit arbeiten?“ fragt Henry das offensichtliche.
Unser Doktorvater lässt stöhnend sein Gesicht in die Hände fallen.
„Kümmert ihr zwei euch um diesen Wettbewerb, damit ich mir endlich die Institutsleitung vom Hals halten kann.“
Henry und ich werfen uns einen aufgeregten Blick zu. Endlich ist unsere Chance gekommen, zu zeigen, was in uns steckt!
„Der Wettbewerb ist in 6 Monaten. Wenn ich in einem Monat zurückkomme, will ich mindestens die fertige Planung, die Kostenprognose und die Sponsoren sehen.“ Er lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. „Und den ersten Durchführungszyklus. Ihr zwei solltet das schaffen.“
„Aber, Dr. Helmboldt, ein Monat ist ziemlich wenig Zeit, um-,“ Will Henry widersprechen, doch der alte Mann gebietet ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen.
„Ein Monat ist massenhaft Zeit. Ihr habt den Rest unseres Pensums bereits erledigt. Das heißt, ihr könnt sofort loslegen!“
„Aber wir brauchen Hilfskräfte.“ Henry wird etwas panischer. „Zu zweit schaffen wir das nie!“
„Na dann schlage ich vor, sie suchen sich ein paar motivierte Studenten als Praktikanten!“ Das war sein letztes Wort. Er steht auf und verlässt das Büro.
„Ein Monat?!“ fragt Henry entrüstet. „Was denkt sich dieser alte Knacker?! Wir sind doch keine Übermenschen!“
Erschöpft atme ich aus und schüttele den Kopf. „Wir wollten doch sowieso bei dem Ding mitmachen. Dann ist es eben nicht nächstes Jahr, sondern dieses. Ist doch egal. Unsere Idee haben wir. Wir müssen nur noch ein bisschen dran feilen!“
„Ernsthaft?! Das, was wir uns besoffen ausgedacht haben, als meine Nichte krank geworden ist, willst du beim Wettbewerb vorstellen?!“
Schulterzuckend sehe ich ihn an. „Es sei denn du hast eine bessere Idee.“ Fordere ich ihn heraus. Für einen Moment sagt keiner ein Wort, bis ich aufstehe und entschlossen nach meinem Rucksack greife.
„Wohin willst du?“ fragt Henry leicht genervt.
Schulterzuckend sehe ich zu ihm herunter. „Ein paar Hiwi´s auftreiben.“
„Brainstorming!“ Befielt Henry, „Heute Nacht in der Kneipe!“
***
„Hey, pass doch auf!“ ruft einer der Autofahrer aus einem geöffneten Seitenfenster, als ein Student eilig über die Straße läuft um seine Bahn noch zu erreichen. Genervt stehe ich mit meinen Armen voll Papier vor dem Haupteingang der Universität und versuche, möglichst vielen Studenten meine, eilig vorbereiteten und unsauber ausgedruckten, Flyer für unsere Wettbewerbsgruppe auszuteilen. Henry hat sich am Bio-Campus aufgestellt, während ich den Hauptcampus angehe. Wir dachten uns, seine soziale und warme Art wird unsere Idee den Studenten, die am nächsten an unserer Arbeit dran sind, am ehesten schmackhaft machen. Ich stehe hier eigentlich nur für die Solidarische Geste. Als ob ich tatsächlich Leute für so etwas anwerben könnte!
„Hey, du!“ rufe ich einem Typen mit riesiger Brille und demonstrativ lautgestellten Kopfhörern zu. „Hast du Lust, mit uns an einem Projekt zu arbeiten, das wir beim Molbi-Tech Wettbewerb vorstellen wollen?“
Der Typ mustert mich einmal kurz und geht dann kopfschüttelnd weiter.
Na toll! Das war der zehnte Kandidat, seitdem ich mich vor einer Stunde hier aufgestellt habe… Nur noch drei Stunden, bis ich Henry in der Kneipe treffen werde. Bis dahin nehme ich mir vor, ein paar, für einen unterbezahlten Job motivierte Studenten zusammenzukratzen. Nicht, dass irgendwer in diesem Institut nicht unterbezahlt wäre.
Schnell straffe ich mich und nehme Haltung an, als eine Gruppe von Mädchen aus der Uni herausspatziert.
„Hey, Ihr!“ rufe ich motiviert und nehme all meinen Mut zusammen. „Habt ihr Lust, bei einem Molekularbiologischen Wettbewerb mitzumachen?“
Die kichernde Meute von Mädchen wird plötzlich still und ich fühle, wie mehrere Augenpaare mich abschätzend scannen. Die vorderste Blondine verzieht den Mund zu einem seltsam schiefen, mitleidig wirkenden Lächeln und öffnet den Mund:
„Nein, dank-,“
„Adrian? Bist du das?“ Fragt eine, mir neuerdings nur allzu bekannte Frauenstimme, die mich aufhorchen lässt. Ich lasse den Blick über die Gruppe schweifen und entdecke Valerie, die sich zu mir nach vorn durchschlängelt.
„Valerie!“ Begrüße ich sie freudig überrascht und frage mich gerade, ob sie es wohl seltsam finden würde, wenn ich sie vor ihren Freundinnen umarme. Doch die Entscheidung wird mit abgenommen. Sie fällt mir um den Hals, wie sie es auch schon die letzten drei Male getan hat und lässt mich für einen Moment sprachlos erstarren. Ein leises Kichern geht durch die Runde der anderen Mädchen.
Valerie dreht sich um. „Leute, das ist Adrian!“
„Der, von dem du erzählt hast?“ fragt eine andere ihrer Freundinnen, mit einer grünen Jacke und einem ansonsten so bunt zusammengesetzten Kleidungsstil, wie ich es noch nie gesehen habe.
„Ja!“ Valerie strahlt bis über beide Ohren.
„Wow, du hast von mir Erzählt?“ hake ich unsicher nach.
„Ständig!“ die
Bunte Freundin legt Valerie einen Arm um die Schultern, deren Gesicht plötzlich
einen leichten Hauch Rosa angenommen hat. „Wie süß ist einfach eure Geschichte,
dass ihr euch als Kinder schon kanntet?!“
Mein Blick geht suchend zu Valerie. Sind das die Freunde, die glauben, wir
seien ein Paar?
„Oh, Ja…“ Ich räuspere mich. „Sehr süß- Ich meine... Ähm…“
Ein paar der Mädchen kichern, während die vorderste Blondine die Augen verdreht.
„Was machst du hier?“ fragt Valerie, vermutlich, um möglichst schnell das Thema zu wechseln.
„Oh, ich versuche Hiwis anzuwerben.“ Ich zeige ihr einen meiner Flyer. „Wir brauchen Helfer für unser Projekt beim Molbi-Tech Wettbewerb.“
„Oh!“ Valerie schnappt sich den Zettel aus meiner Hand. „Wie interessant! Ich bin auf jeden Fall dabei!“
„Wow, echt?“ Ich kann meine Überraschung nicht verbergen.
„Zeig mal!“ Sagt die bunte Freundin und ein paar andere Mädchen kommen neugierig ein wenig näher. „Oh, das klingt interessant! Welche Studiengänge dürfen denn da mitmachen?“
Plötzlich sind alle Augen der Gruppe auf mich gerichtet.
„Ähm… naja eigentlich alle, die interessiert sind. Was ihr noch nicht könnt, bringen wir euch bei. Natürlich wären Bio-, Chemie oder Lifescience Studiengänge am praktischten, aber momentan haben wir nicht das Privileg, wählerisch zu sein…“ Ich reibe mir nervös den Nacken.
„Fantastisch! Ich bin auch dabei!“ Sagt sie schließlich. „Ich studiere Biochemie im dritten Semester!“ Lächelnd stupst sie Valerie mit dem Ellbogen in die Seite. „Was ist mit euch?“ fragt sie, an die Freundinnen hinter sich gewandt.
„Hier habt ihr ein paar Flyer!“ Ich teile so viele Zettel aus, wie nur möglich und informiere die Mädchen, dass wir uns heute Abend mit Interessierten in der Kneipe treffen, um alles Weitere zu besprechen.
Nachdem wir alle eine Weile gequatscht haben, gehen die Mädchen weiter zum nächsten Kurs.
„Und? Wirst du mit deinem Freund nach Hause gehen?“ Fragt die Bunte Freundin. Eine der wenigen die noch mit uns zurückgeblieben ist. „Ich bin übrigens Helma. Nett, dich endlich kennenzulernen!“ Helma reicht mir ihre Hand und ich schüttele sie beherzt. Diese Person wirkt sofort sympathisch. Ihr bunter Kleidungsstil erinnert mich ein wenig an Alani, unsere flippige Laborassistentin, in die Henry hoffnungslos verknallt ist.
„Adrian. Auch nett, dich kennenzulernen.“
Helma schenkt mir ein höfliches Lächeln und wirft dann Valerie einen Blick zu. „Und?“
„Ich gehe mit euch.“ Antwortet diese lachend. „Ich denke, Adrian muss noch ein paar Leute ansprechen.“ Sie zwinkert mir zu. „Wie viele Menschen braucht ihr für das Projekt?“
„Nun, ja… es kommt darauf an, wie oft die Menschen Zeit haben.“ Erkläre ich. „Am besten wären zwischen zehn und zwanzig Leuten insgesamt.“ Valerie sieht mich besorgt an.
„Brauchst du Hilfe beim Anwerben?“
„Oh, nein, du hast mir hiermit schon sehr geholfen.“ Ich deute auf sie und ihre Freundinnen. Die Mädchen kichern wieder.
„Also dann! Wir sehen uns heute Abend!“ Helma winkt noch ein letztes Mal, bevor die Mädchen sich auf den Heimweg machen.
„Puh!“ Ich sehe auf meine Armbanduhr. Noch zwei Stunden bis zum Kneipentreffen.

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