Liebes Tagebuch,
der Gestank in meiner Wohnung ist heute unerträglich, es scheint mit jedem Tag schlimmer zu werden . Ich kann kaum einen Gedanken fassen, verzeih also, wenn ich Dinge in diesem Eintrag nur verkürzt wiedergebe. Es fällt mir zunehmend schwerer, meine Gedanken zu ordnen.
Gestern ist noch viel mehr geschehen als ich schreiben konnte bzw. habe ich vergessen, von Dingen zu berichten . Wo soll ich beginnen? Bei dem Transkript, das mich erreichte.
Leider hat mein ehemaliger Kommilitone die händischen Aufzeichnungen des Wanderers nicht komplett in Reinschrift gebracht, sondern mir nur eine Zusammenfassung zukommen lassen. Ich bin ihm wirklich dankbar, dass er sich überhaupt die Zeit genommen hat, dennoch bin ich etwas enttäuscht.
Aus den Zeilen, die er schrieb, geht hervor, dass sich die Burglegende etwas anders darstellt, als es Jochen auf seiner Website darstellte.
Hier also, was sich laut dem Wanderer zugetragen hat:
Ein adeliger Burgherr und ehemaliger Ritter ist in der Schlacht, während seine über alles geliebte Frau seinen einzigen Erben gebiert. Sie stirbt während der Geburt, ohne ihren Mann noch einmal zu sehen. Der Mann, heimgekehrt, zwar erfolgreich in der Schlacht, zerbricht an ihrem Tod. Er dreht durch , behauptet seine geliebte tote Ehefrau in fast jeder Frau zu sehen, die ihm begegnet. Sein Wahn veranlasst ihn, um jede der Frauen zu werben. Sagen die Frauen ja zu der Heirat erkennt er kurz danach aufgewacht, wie aus einem Fiebertraum, dass jene Ehefrau vor ihm nicht jene ist, die er sucht und verscheucht sie mit Schimpf und Schande aus der Burg. Dem Wanderer nach, der wohl das Porträt der ursprünglichen Burgherrin und ihrer Nachfolgerinnen gesehen hat, scheint sich der Adelige in stets ein Detail der Frauen zu verlieben, das seiner verstorbenen Gattin gleicht. Bei der einen ist es die Haarfarbe bei der anderen das Lächeln. Das Spiel setzt sich fort, bis er die stolze Anzahl von 99 Bräuten erreicht hat, König und Kirche lassen den Kriegshelden gewähren aus Mitleid und für seine Verdienste.
Bei der letzten Braut jedoch ändert sich etwas, auch ihre Ehe ist von nur sehr kurzer Dauer, doch sie will sich nicht damit abfinden. Die Verschmähte schleicht in einer Gewitternacht zurück in die Burg, aus der man sie vertrieben hat. Sie will Rache und ihr Plan, ist dem Burgherren das einzige zu nehmen, dass er noch ehrlich liebt, den Sohn.
Mit Gewalt, aber auf leisen Sohlen packt sie den Erben, zwingt ihn, mit ihr zu kommen. Blitze erhellen ihren Weg, während Donner die Steinmauern grollen lässt. Sie schleift das unschuldige Kind durch einen Geheimgang des Folterkellers, der sie nach außen führen soll. Doch irgendwo in den Gängen die einst bei Bedrohungen die Flucht ermöglichen sollte, erlischt ihre Fackel. Gehetzt zerrt sie den Knaben in die Richtung durch die Dunkelheit, bis sie einen Lichtschein erspäht hinter einer Tür. Das Weinen des Kindes mischt sich mit dem Tosen des Sturmes, sie stößt die Tür auf. Doch sie ist nicht in Freiheit, sie ist in der Hölle. Atemraubender Gestank schlägt ihr entgegen von fauligem Fleisch, ohrenbetäubendes Brummen von Fliegen macht sie taub, es sind so viele, dass alles wie ein schwarzer Schwarm wirkt, der sie zu verschlucken droht. Das Schluchzen des Kindes hört auf, es beginnt zu zittern und auch ihr wird bewusst das dieser Ort kälter ist als der Winter selbst. Sie lässt die Hand des Kindes los. Sie muss raus. Raus . Sie wedelt mit den Armen die Fliegen zu verscheuchen, als sich die schwarze Masse erhebt, erblickt sie das wahre Grauen der Burg. In der Mitte des Raumes liegt ein Körper aufgebahrt. Das Fleisch fällt von den Knochen, die Augen hohl , das Kleid getränkt von getrocknetem Blut . In dem Schoß liegt etwas verdorrtes. Die verschmähte Braut in Schock starrt auf diesen Klumpen, bis sie ihn er kennt. Es ist eine mumifizierte Babyleiche, die Nabelschnur noch mit dem Leib der Mutter verbunden.
Sie hört gellende Schreie, ohrenbetäubend, grell von Wahnsinn gepackt. Es sind ihre eigenen. Wirr dreht sie sich zu dem Knaben . Er lächelt ein trauriges Lächeln. Sein Körper verblasst und sinkt in jenen des toten Säuglings.
Es ist zu viel für die Nerven der Frau, sie rennt und schreit wie von Sinnen, stürzt aus dem Raum heraus in die Klinge des Burgherren, der sein Schwert voran zur letzten Grabstätte seiner Liebsten geeilt war.
Die letzten Zeilen des Wanderers beschreiben, wie der Adelige die tote Braut in den Armen im Tor der Burg stand, als der Blitz einschlug. Direkt an jene Stelle, an der die Unglücklichen standen.
Niemand traute sich zu löschen oder den Schreienden zuhilfe zu eilen. Gott hatte sein Urteil gefällt über jene, die die Totenruhe nicht achteten.
Am Rand des Dokumentes war eine Kritzelei, der Legende zufolge überstanden einige Kunststücke den Rand, die danach gestohlen und gehandelt wurden.
Ich sah von dem Dokument auf und betrachtete den Geist neben mir, der aus der Leinwand entsprungen war. War er der Burgherr?
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