Er atmete tief ein. Atmete aus. Wenn er eine Frage von ihr hören wollte, dann war es nicht diese. Aber sie hörte ihm zu. Auf mehr konnte er in diesem Moment wohl nicht hoffen. “Durch Verständnis.” Würde er ihr heute das Tor öffnen? Vielleicht würde sie dann verstehen? Er war sich nicht sicher, ob sie bereit war. Die anderen waren es nicht. Doch er hatte es bereits so lange herausgezögert. Er konnte nicht länger warten. Selbst wenn er es tat, lag noch ein langer Weg vor ihr und er wollte sie begleiten, so lange er konnte.
Er setzte sich ihr Gegenüber an den Tisch. Er hatte seine Entscheidung getroffen, auch wenn sie auf wackeligen Beinen stand. Am Ende war es eine Frage des Vertrauens und er vertraute ihr.
“Es ist jetzt acht Jahre her, dass ich dich damals gefunden habe. In all der Zeit, hast du da je über Magie nachgedacht? Sei selbst zu weben? Selbst die Welt um dich mit nur einem Gedanken zu formen? Das ist es, was du hier bist, zu lernen. An Theorie habe ich dir über die Welt beigebracht, was ich kann. Oder was du gewillt bist von mir zu lernen. Vielleicht ist es an der Zeit, in die Praxis überzugehen.”
Die Augen seiner Schülerin leuchteten auf. “Meint Ihr das ernst?”
“Ich würde darüber keine Scherze machen. Aber ich möchte, dass du verstehst, dass es einen Preis hat. Wir sind nur ein kleiner Funken in dieser Welt, sie sind die Weite, die sie umschließt. Du wirst ihnen gegenübertreten und wenn sie dich akzeptieren, beginnt der praktische Teil deiner Lehre.”
“Welcher Preis? Und was soll das heißen: wenn sie mich akzeptieren?”
Über gefaltete Hände sah er sie ernst an. “Meine Macht, Magie zu weben, ist von ihnen geliehen. Und auch du wirst sie von ihnen erhalten. Stell es dir so vor: Du müsstest auf dich alleine gestellt die Bewegung der Sterne begreifen und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bahnen beschreiben. Es würde Jahre dauern und selbst dann würdest du nur einen Bruchteil erreichen. Nun stell dir vor, jemand könnte es dir erklären. Aber sie müssen es wollen. Und das hängt von dem Preis ab, den du gewillt bist, zu zahlen. Doch das ist zwischen dir und ihnen.”
Er sah es in ihr arbeiten. Die Überlegung, was der Preis sein könnte und ob er es Wert war. Wahrscheinlich hatte er damals auch gezögert, als sie ihn in Osena gefragt hatten, seine Freunde zurückzulassen und den unbestimmten Preis zu zahlen. Alles, was danach geschah, ist Geschichte. Sollte ihre Geschichte besser verlaufen als seine. Er würde sie nicht hetzen.
“Ich werde mich ihnen stellen. Ich will, was sie mir bieten können.” Er hatte damals seine Gründe gehabt, so zu antworten. Sie hatte die ihren.
Er nickte. “Ich werde alles vorbereiten. Und du solltest auch sicher gehen, dass du bereit bist. Erinnere dich daran, was ich gesagt habe: Dies wird dein erster Blick in eine unbekannte, unverständliche Welt.”
Sie nickte eifrig. “Natürlich. Ich werde Euch nicht enttäuschen.”
“Gut, dann geh.”
Wie ihr Meister es ihr befohlen hatte, huschte sie aus der Bibliothek. Ihre Augen hatten geleuchtet. Er hatte sie trotz allem gut vorbereitet. Sie würde die Daeva mit offenen Armen empfangen. Und diese sie. Er sah sich einen Schritt näher daran, seine Nachfolge zu sichern.
Er hatte ihr nie viel über die Gebräuche der großen Elfenfamilien beigebracht. Nicht, weil er nicht mehr gewusst hätte, sondern weil er es nicht für nötig gehalten hatte. Ihr Leben war einem festen Ziel verschrieben, hatte von nun an einen festen Pfad und so hatte er ihr nur das vermacht, was sich damit vereinen ließ. Sie würde den Geistern ein Rauchopfer darbringen, mit der Bitte um Stärke und Klarheit. Ein Gebet von vieren, das er ihr beigebracht hatte.
Er selbst stand auf und ging an einem der unzähligen Bücherregale entlang, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Werk. Auf seinem Weg schwappten die Stimmen der unzähligen Bücher über ihn herein. Sie zerrten an seinem Geist. Redeten auf ihn ein, schrien ihn an, fragten ihn aus. Nur den wenigsten antwortete er. Er vermisste die Stille und Zurückgezogenheit in seinem Kopf, doch die waren nun mal der Preis dafür, die wahre Natur der Dinge zu kennen. Er hoffte, seine Schülerin gut genug auf das vorbereitet zu haben, was sie erwartete. Es waren schon mächtigere daran zugrunde gegangen. Iora, die Windweberin, die ihren eigenen Kult ausgelöscht hatte. Sie war eine gute Freundin gewesen und er hoffte, er würde sie durch seine Schülerin ehren. Oder der einsame Torren, der dem Berg befahl, über ihm zusammenzubrechen. Niemand wusste, warum er es getan hatte. Nicht einmal dem Magier hatte er verraten, was in ihm vorging. Er vermisste die alten Tage in Osena.
Mit seinen Fingern strich er über die Buchrücken, an denen er vorbei ging. Seine Gefährten. Sein Reich. Der Teil seines Vermächtnisses, für den er sich nicht schämte. Und dann fand er, wonach er gesucht hatte. Ein Buch saß stumm im Regal; verlangte nicht nach seiner Aufmerksamkeit, als wäre es sich bewusst, dass er von selbst zu ihm kommen würde, wenn es nur geduldig war. Vielleicht war es auch töricht, Büchern eine Persönlichkeit zuzuschreiben.
Er legte das Buch auf den kleinen Tisch in der Mitte der Bibliothek und schlug es auf. Blind und wie von selbst, fanden seine Hände die richtigen Seiten. Die selben Seiten, wie unzählige Male zuvor. Über Jahre vergilbtes Papier; verwischte Tinte, die Worte kaum noch leserlich, doch für immer in seinem Geist; und die unzähligen Fingerabdrücke aus getrocknetem Blut. Wahllos über die beiden Seiten verteilt, überlappend erdig-braune Flecken ein Zeugnis seines Lebensweges.
Er hatte dieses Buch damals von seinem Meister erhalten, als er Osena verlassen hatte. In den langen Jahren seither hatte er es kommentiert und ergänzt. Sein Meister vor ihm ebenso. Und so vielleicht dessen vor ihm. Das kollektive Wissen einer langen Linie. Wenn sie eines Tages dafür bereit war, würde er es seiner Schülerin vermachen; wenn er sich endlich zur Ruhe setzte. Bis zu diesem Tag war es sein Weg, zu den Daeva. Sein Privileg.
In einer Schale entzündete er eine Hand voll Kräuter. Er atmete den Rauch ein. Anfangs nur dünne Fäden, wuchsen sie, dicker und dichter, bis sie seine Lunge füllten. Seine Lider flatterten und er begann, sich von seinem Körper zu entfernen. Jeder Atemzug ein Schritt fort von dieser Welt.
“Meine Meister, euer Diener erbittet eure Aufmerksamkeit.”
Sie akzeptierten. Er biss sich die Kuppe seines Daumens blutig und drückte sie auf das Papier. Sein Schlüssel zu diesem uralten, so bekannten Ort. Die Straßen einer längst vergessenen Stadt. Ohne Namen. Ohne Erinnerung an die Menschen, die einst in ihr gelebt hatten. Und als er durch die Tür trat, war es, als würde er nach einer langen Reise nach Hause zurückkehren. Und in seinem Geiste herrschte Stille.
Von oben herab beobachteten sie ihn; die Äußeren, Daeva, Verbannte, Daimons, Gallûs. Seine Götter. Sie verfolgten seine Wanderung durch diese alten Straßen aus verwittertem Stein, vorbei an lange verfallenen Ruinen ehemals prachtvoller Gebäude. Er hatte sie gesehen, damals, in all ihrer Schönheit, ihrem Prunk. Doch als ihre Jünger weniger wurden, schmolz auch all das dahin. Der Blutmagier vermisste die Zeiten, als die Mauern golden glänzten, der Himmel saphirblau erstrahlte und in der Stadt das Leben pulsierte. Doch auch damals wusste er schon, dass es alles nur eine Illusion war. Gewoben um jene zu trösten oder in ihrer Entscheidung zu bestärken, die ihre ersten Schritte in dieser Welt taten.
Stumm grüßte er die ebenso stummen Gestalten, die ihn auf seiner Reise verfolgten. Schatten, die ihn begleiteten, seit er die Stadt betreten hatte. Und wie die alten Paläste, Türme, Tempel und Burgen, waren auch sie nur würdelose Reste eines siechenden Titanen, ohne Nahrung, verhungernd.
Er blieb stehen und schrie in den Himmel, der wie ein verblichenes Gemälde über ihm hing; die weißen Fransen der Wolken, wo die Farbe bereits abgeblättert war.
“Ist das alles, was ich euch noch wert bin? Habe ich euch nicht jeden eurer Wünsche erfüllt? Und ihr schickt diese erbärmlichen Gestalten, um mit mir zu sprechen? Diese drei wertlosen Seelen, die in eurem Dienst ihr Ende gefunden haben - Ich war euer Torwächter!”
Er drehte sich um und fixierte der Reihe nach jede der Figuren, die ihm gefolgt waren. Sie ruhen zu lassen wäre gnädiger gewesen. Einer jeden sah er die Art an, auf die sie gestorben war. Der Mann zu seiner Linken brannte. Die Haut spannte unter der Hitze, riss auf, verkohlte, Fleisch schmolz von den Knochen. Glut in seinen Augen, Rauch in seinem Rachen. Der rechte eine Masse aus gesplitterten Knochen und verzerrtem Fleisch, geplatzte Haut, durchstochen von Rippen; verschmiert von Blut. Mit jedem Atemzug tropfte roter Schaum von seinem Gesicht. Die dritte, die mittlere - bei ihr war es schwieriger. Sie stand vor ihm, doch nicht ihr Körper. Ohne ihre sterbliche Hülle war alles offenbart und sie stand stolz vor ihm. Stand, als fühlte sie sich ihm überlegen.
Der Magier legte den Kopf schief. “Und wer warst du, dass sie dir diese Ehre zuteil werden lassen?” Ein Körper aus der Welt gerissen, aus seiner Existenz. Nicht der kleinste Teil von ihm übrig. Nicht einmal eine Erinnerung verblieb in der Welt. Kein Echo, kein Hall. Was hatte sie getan, dass die Meister sie zurückgebracht hatten? “Hast du für sie gekämpft? Damals im Götterkrieg?”
Er wandte sich von ihnen ab. Trotz allem hatte er ihnen lange Jahre gedient. Trotz allem war das unter seiner Würde. “Einzig ihr steht über mir”, schrie er den Daeva entgegen. “Einzig mit euch werde ich sprechen.”
Aus dem Sand und zwischen den Steinen begannen hunderte, tausende, unzählige Käfer zu erscheinen. Schabendes Chitin, zitternde Mandibeln und zuckende Beine, als sie übereinander krochen. Schwirrten von hier nach da und geronnen zu einer festen Form, die aus dem Boden wuchs. Ein Körper aus millionen. Aus Panzern und sechs-Beinen und umherflatternden Teilen und dem Lärm einer verschlungenen Ernte und eines verhungernden Dorfes. Dem schwarzen Himmel ohne Regen gleich stand die Gestalt wortlos vor ihm.
“Habt Ihr euch entschieden, meine Bitte anzuhören, Meister?”
Die Antwort war ein Surren, eine Bewegung in tausend Teilen, ein Beben.
“Wie ihr wisst, habe ich seit acht Jahren eine Schülerin. Ich möchte euch nun bitten, sie in den Kreis eurer Jünger aufzunehmen. Sie wird in eurem Namen in der Kunst der Blutmagie unterrichtet werden.”
Dann stand er wieder in seiner Bibliothek und der Lärm in seinem Geist war ebenfalls zurück. Schon jetzt vermisste er die namenlose Stadt und ihre Stille, doch seine Aufgabe verlangte ihn hier. Und er würde sie erfüllen.

Comments (2)
See all