Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Sommer
Nördlich von Ardport, Titanengrab
Gemächlich trottete der Esel hinter Meister und Schülerin her. Schon seit Stunden trug er ihre Last. Als sie aufgebrochen waren, wollte die Sonne gerade untergehen und nun standen die Monde - Sénbhe und Dhénia - schon hoch am Himmel und tauchten die drei in fahles Licht. Stumme wachten die silber-weißen Schwester über die schlafende Welt hier unten, während sie dort oben im endlosen Meer der Sterne ihre immer gleichen Bahnen zogen. Dhénia, die kleinere, stets ein bisschen schneller, ihrer großen Schwester immer ein Stück voraus. So tanzten sie über den Nachthimmel, wenn ihre Mutter tief unter dem Meer im Westen schlief.
“Wie weit denn noch?”, fragte Iora ihren Meister, der die ganze Zeit über nicht ein einziges Wort gesprochen hatte. Es hatte sie zunehmend nervöser gemacht, da er sonst nur sehr selten zum Schweigen neigte. Was hätte sie jetzt für eine Lektion gegeben. Die Stille dagegen nagte an ihr. Sie war es, die Iora mehr Unbehagen bereitete, als Göttern gegenüberzutreten.
“Siehst du die Säule da vorne, die aus dem Titanengrab wächst?” Ohne sich zu ihr umzudrehen, wies er mit dem ausgestreckten Arm weit in die Ferne. Sie konnte in der Dunkelheit kaum ausmachen, worauf er deutete. “Dort müssen wir hin. Dort habe ich vor Jahren die Runen in den Stein gemeißelt. Dort werden die Daeva dich in ihre Jünger aufnehmen.” Diese Erklärung tat nichts, um Ioras Gemüt zu beruhigen.
Danach verfiel der Meister wieder seinem Schweigen. Den Rest des Weges bis zur Brücke, die sie auf die steinerne Plattform bringen würde, sprach er kein weiteres Wort und ließ sie mit ihren Gedanken alleine. Oft hatte er ihr gesagt, sie solle die Zeit nutzen, in der er ihr nichts beibrachte, um selbst über die Dinge nachzudenken, doch in dieser Stille war keine Zeit, um über die Natur des Lebens oder die Entwicklung verschiedener Arten zu sinnieren. Keine Zeit, kein Raum, keine Ruhe. Ihre Gedanken waren ein Himmel voll aufgeschreckter Vögel und dunklen Wolken und einem aufziehenden Sturm, der lose Blätter und Staubschwaden vor sich her trieb. Und sie stand dort und versuchte zumindest einen der Vögel zurück in seinen Käfig zu locken. Es gelang ihr nicht.
Sie hatte für Stärke gebetet und für Klarheit. Sie wusste nicht, ob es etwas gebracht hatte. Hatten ihre Ahnen sie überhaupt gehört? Sie wusste ja nicht einmal, wer sie waren. Reiter in der Steppe weit im Süden? Jäger in den Eisenwäldern? Ihre Eltern… Warum waren sie fortgegangen? Es fühlte sich auf jeden Fall nicht so an, als würden sie ihr in dieser Prüfung beistehen. Vielleicht lag es an den Gebeten selbst. Theologie war zwar eines der Gebiete, in denen ihr Meister sie unterrichtet hatte, doch es war nichts weiter als Theorie. Stammbäume. Die Natur der Göttlichkeit. Wie sich Riten über die Jahrhunderte verändert hatten. Aber wie man richtig betete? Nicht die geringste Ahnung. Brachte ihr das Wissen etwas, dass Irdorath Mutter und Vater aller Elfen war? Jäger auf dem Wind? Nicht wirklich. Sie hatte versucht, sie anzusprechen. Bat sie, ihr beizustehen, sollte etwas geschehen, wie sie vermutete, dass man es tat. Antwort hatte sie keine erhalten.
Endlich erreichten sie die steinerne Säule. Eine von vielen Inseln in einem See aus Nichts. Dunkelheit, die sich in den Abgrund erstreckte. Und der einzige Weg, dieses Schwarz, das kein Wasser war, zu überqueren, war eine wenig vertrauenserweckende Brücke. Sie knarzte und schwang unter jedem Schritt, doch am Ende standen sie wieder auf festem Boden. In der Mitte des Plateaus gab der alte Magier ein Zeichen, dass sie hier halten würden. Den Esel band Iora an dem vertrockneten, knorrigen Baum fest, der sich trotz aller Widerstände diesen kargen Ort als seine Heimat auserkoren hatte und sich an den letzten Rest Leben klammerte, der noch in ihm war. Sie sah etwas poetisches darin, wie er hier um sein Überleben kämpfte. Sie wusste nicht, was genau.
Während der Meister den Sand und Staub über den Rand des Plateaus fegte, entzündete die Schülerin die Feuerschalen, die der arme Esel die letzten Stunden hatte tragen müssen. Und wann immer der Lehrer wieder eine Rune entdeckt hatte, eilte sie an seine Seite und goss je nach seiner Anweisung Wasser oder Öl darüber. Ein Kreis. Eine Sichel. Ein Blitz. Ein… Baum?
Schließlich waren sie fertig und platzierten eine letzte, verzierte Schale in der Mitte des Kreises. Der Meister schien zufrieden. Hier stand er als Magier und Herr über Naturgewalten. Die Flammen zuckten im leichten, warmen Wind, tanzten, sprangen und ihr unstetes Licht kleidete ihn im Gewand des Übermenschlichen. Seine Züge verhüllt. Die Schatten tiefer und immer in Bewegung. Die Falten in seinem Gesicht, sich windende Ranken, die über seine Haut wucherten. Seine Augen, der Spiegel der Flammen, Glut in ihren Höhlen, ein fahles Licht, eine Reflektion, ein Tor. Hier war er nicht einfach ein alter Mann.
Das wilde Flackern der Feuer im Wind hatte das ruhige Licht der Monde vertrieben. Die kalte Nervosität wich nun einer brennenden Anspannung. Iora hatte ihre Zweifel, sicher, doch hatte sie nicht ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet? Hatte nicht jeder Moment ihres Studiums sie hierauf vorbereitet? Acht Jahre in der Lehre ihres Meisters… Dies wäre die Krönung all ihrer Geduld.
Sie drehte und wendete den Gedanken, während ihr Meister vor der Schale kniete und begann, darin Kräuter zu verbrennen und den Rauch zu inhalieren. Außer dem leichten Wind und dem Knacken des Holzes war es unglaublich still. Es wäre Iora so viel lieber gewesen, wenn es laut gewesen wäre; wenn etwas passiert wäre. So konnte sie nur ihrem Meister zusehen, wie er wieder und wieder eine Hand voll - was auch immer - in die Schale warf und er sich mit jeder Minute, die verging, weiter veränderte. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sein Gesicht nahm erschreckende Züge an. In Ardport– In Ardport hatte sie so etwas schon einmal gesehen. Bei den Staubsüchtigen in den dunklen und verlassenen Gassen, in die sich niemand traute. Zerfressene, unmenschliche Gesichter, trübe Augen, die Sinne nicht mehr in dieser Welt. Er lachte. Tausend Stimmen aus seiner Kehle.
“Iora, Erbin des Namens der Windweberin, Tochter Irdoraths, du hörtest den Ruf der Daeva und folgtest ihm zu ihnen. Aus welchen Gründen willst du dich ihnen unterwerfen?”
“Was?” Davon hatte er nichts erwähnt. Von einem Preis, ja, aber nicht das. Sie wollte sich niemandem unterwerfen. Hatte er sie nicht erzogen, frei zu leben? “Ihr hattet nie–”
“Du hast mein Angebot ohne zu zögern angenommen. Du hast dich bereit erklärt, den unbestimmten Preis zu zahlen. Also nenne deinen Grund. Ihre Augen sind bereits auf dich gerichtet und deine Seele ist ihnen versprochen.” Er sprach mit einer Stimme so heiter, dass es ihr den Magen umdrehte.
Es musste ein Test sein. Er würde sie nicht einfach so ausliefern. Was, wenn doch? Nein. Acht Jahre. Acht Jahre hatte er sie auf diesen Moment vorbereitet. Hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Sie würde nicht zurückweichen. Sie sah Ardport. Die Straßen, den Schnee, die Stiefel, die stumpfen Enden von Speere. Spürte sie in ihrem Fleisch und ihren Knochen. Fühlte das Messer an ihrem Ohr. Sie würde nicht zurückweichen. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein. Und es war, als würde sie nur Rauch einatmen, keine Luft. Zäh lief er ihre Kehle hinab und breitete sich in ihrem Körper aus. Sie hustete. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie atmete aus. Sie würde nicht zurückweichen. Wieder atmete sie ein. Sie spürte, wie sich ihr Körper entspannte. Wie sich ihr Geist entspannte. Wie die Wärme in jede Faser ihres Seins eindrang und als sie ihre Augen öffnete, waren ihre Gedanken klar. Die Antwort lag vor ihr, als wurde sie gefragt, was ihr Name sei. Und sie war selbst überrascht davon.
“Ihr wollt sicher Macht hören. Ist es das? Die Daeva würden sich freuen, wenn ich nach Macht streben würde. Wenn ich mich ihnen als ihre Hand anbiete. Ihr Instrument in dieser Welt werde. In ihrem Namen töte.”
Sie sah der Gestalt ihr gegenüber, die nicht mehr viel von ihrem Ziehvater hatte, tief in die Augen. Etwas anderes saß in diesen Höhlen. Etwas, das nicht hier sein sollte. Doch es war zu spät, umzukehren.
“Aber das ist nicht, wer ich bin. Ich strebe nach Wissen. Mehr Wissen, als es die großen Bibliotheken in sich bergen. Mehr Wissen, als die großen Meister vor dem Götterkrieg besessen haben. Wissen über das große Gesamte und den kleinsten Teil davon. Den Stein und das Haus. Die Quelle, den Fluss und das Meer.”
“Du willst Wissen? Wissen sollst du haben. Genug, für dich darin zu ertrinken. Genug, dass du wünschst, du könntest vergessen.”
Die Hülle der Daeva breitete die Arme aus. Als sie den Mund öffnete, drang kein Laut über ihre Lippen. Stumm formten sie unmögliche Silben. Und der Stein unter ihren Füßen sprach für sie. Der Fels kreischte und zu ihrer Linken und Rechten verschwand das Gestein in der Tiefe. Mit ihm der Baum und der angebundene Esel.
Iora wollte längst wegrennen. Dieses ganze Ritual war so viel mehr, als sie jemals erleben wollte, aber kein Muskel in ihrem Leib gehorchte ihr. Sie war nur noch eine Beobachterin.
“Empfange unser Zeichen.”
Mit der Asche aus der verzierten Schale zeichneten die Götter eine Rune auf ihre Stirn und eine auf ihr Kinn. Sie spürte sie auf ihrer Haut und darunter. Dann erhob sich der Körper ihres Meisters und trat aus ihrem Blickfeld. Die Klarheit war seit der Machtdemonstration aus ihrem Geist gewichen und jetzt war sie dort mit ihrer Furcht allein und ihr Ziehvater, der sich um sie gekümmert hatte, als wäre sie seine eigene Tochter war so weit von ihr entfernt, dass es unmöglich war, dass er jemals wieder seinen Körper bewohnen würde.
Das musste ein Test sein. Das konnte alles nicht wirklich passieren. Das musste ein Test sein. Etwas lief feucht ihre Wange hinunter. Das musste ein Test sein.
Sie war das dreckige Kind von der Straße und der Wachmann hatte sie mit dem Apfel in der Hand erwischt.
Und ihr Schicksal war nicht mehr das ihre.
Hinter ihr zupfte etwas an ihrem Kragen und dann hörte und spürte sie, wie ihre einfache Tunika aufgeschnitten wurde. Sie glitt ihr vom Rücken. Dann strich die Hand, die nicht mehr die ihres Meisters war, ihre Haare beiseite. Ein Schauder lief ihr den Rücken hinab.
Sie wollte bitten, flehen, schreien, weinen. Kein Laut kam über ihre Lippen.
“Wesen des Windes, du bist unser.”
Die Spitze des Messers durchstach die Haut in ihrem Nacken. Sie konnte sich nicht bewegen; konnte nur fühlen. Erst nur ein stumpfer Druck, bis ihre Sinne hinterher kamen und begriffen, was ihr Geist bereits wusste.. Für Iora war es, als würde die Marionette mit weiß glühendem Metall tief in sie hinein malen. Der zweite Schnitt ging in einem Bogen vom linken Schulterblatt zum rechten. Und wieder setzte sich der Schmerz von ihrem Rücken in ihrem Geist fort. Sie schrie. Vor Schmerz und Verzweiflung. Sie schrie nicht. Nicht ein Muskel krampfte. Nicht ein Stück bewegte sie sich.
Das nächste Symbol war ein Kreis auf der unteren Hälfte ihres Rückens. Da gab ihr Körper endlich nach. Ihr Geist hatte sich schon zurückgezogen und beobachtete nur noch die weißen Linien, die sich vor ihrem inneren Auge bildeten. Das Blut rann ihr in einzelnen Bahnen über den Rücken. Die Daeva aber zerrten sie wieder nach oben und zeichneten ihr blutiges Bild zu Ende. Ohne Rücksicht. Blutiger Pinselstrich für blutiger Pinselstrich. Ein Gemälde in ihrem Wesen. Leblos hing Ioras Körper in ihrem Griff, als sie ihr Werk vollendeten.
“Diese Narbe, diese Glyphe ist unser Vertrag. Sie bindet dich an uns und gibt dir unsere Macht.”
Und sie verstand. Dies war das Ende ihrer Seele. Und als sich endlich der Schleier der Bewusstlosigkeit über sie legte, um sie vom Schmerz zu erlösen, empfing sie ihn mit offenen Armen.

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