Jahr 351 nach dem Götterkrieg, Sommer
Merun, Hauptstadt des Kaiserreichs
Begleitet von einem organischen, feucht-schleimig schneidenden Geräusch, durch Fleisch und Schaben entlang Knochen, zog Giræsea ihr Schwert aus dem leblosen Körper des Avius und hängte es wieder in ihren Gurt. Um die Leiche kümmerte sie sich nicht weiter. Sollte ihn doch abholen, wer ihn hierher geschickt hatte; vielleicht verstanden sie dann auch endlich die Nachricht. Sie beeilte sich, Distanz zwischen sich und den Schauplatz des Angriffes zu bringen. Die Wachen würden sicher nicht lange auf sich warten lassen und sie hatte wirklich keine Lust, ihnen die ganze Situation erklären zu müssen. Sie brauchte wirklich kein zweites Kinbay.
Hoffentlich machte sich Thorgest gerade nicht zu viele Sorgen um sie. Sie hatte herzlich wenig Lust, zur Herberge zurückzukehren, festzustellen, dass er wieder losgezogen war, um sie zu suchen und dann ihrerseits auf die Suche nach ihm gehen. Die Stunden, die sie in diesem verfluchten Irrgarten einer Kaiserstadt verbracht hatte, waren mehr als genug. Sie sehnte sich nach einem vollen Becher und einem Bett. Nicht mal nach einem weichen Bett; einfach nach einem Bett. Und sie sehnte sich nach Älyans Berührung. Vielleicht war sie noch wach.
Verfluchte Großstadt! Hätte der Attentäter früher die Eier gehabt, sie anzugreifen, müsste sie jetzt nicht so weit laufen. Sie war wahnsinnig froh, ihn endlich los zu sein, auch wenn es weit knapper war, als ihr lieb gewesen wäre.
Zurück an der Kreuzung, die auf die Hauptstraße dieses Rings führte, sah Giræsea nach links. Da konnte sie nicht lang. Die Sache mit dem Bettler hatte für zu viel Aufsehen gesorgt. Was musste er ihr auch so lange hinterherlaufen? Sah sie so reich aus? Nach rechts also. Sie würde die ordentlichen Straßen hier oben vermissen. Nur eine Straße weiter bog sie wieder nach links ab, dann einen Block weiter nach rechts. In Schlangenlinien bahnte sie sich ihren Weg durch die Geometrie einer Stadt, die ihr Kopfschmerzen bereitete. Menschen, Zwerge und Felin gingen ihr größtenteils aus dem Weg und Giræsea war dankbar für das unstete Licht der Fackeln – wer wusste, wie sie sonst reagieren würden, wenn sie das Blut sehen würden. Vielleicht wäre ihr Varnith ja gnädig und sie fand irgendwo einen Brunnen. Sie wollte sich die Hände waschen.
Dieser Ring - zu beiden Seiten begrenzt von Mauern, die über mehrere Etagen und mit unzähligen Wehrgängen und Türmen und Burgen hoch in den Himmel wuchsen und dort Gefahr liefen, die Wolken zu streifen - diente der Bevölkerung von Merun als Markt. Der ganze Ring. Einmal um die Stadt. Giræsea war fasziniert von dieser Eigenheit der Kaiserstadt. Die Bewohner der anderen Ringe, der Oberstadt auf dem Berg und der Stadt im Stein besuchten alle diesen zentralen Ring. Sie war sich jedoch nicht sicher, was der Sinn dahinter war, einen Markt in dieser Form anzulegen. Es sei denn, man wollte einen ganzen Tag damit verbringen, im Kreis zu laufen und die ausgestellten Waren zu bewundern. Ein Gedanke, der ihr durchaus schon gekommen war, und den sie auch mit Älyan besprochen hatte. Naja, es war nie dazu gekommen. Sie wussten beide, wieso.
Giræsea hätte schwören können, der Weg zurück hätte um die Hälfte kürzer sein müssen, doch schließlich hatte sie es endlich geschafft und stand vor dem Tor, durch das sie vor einigen Stunden den Markt betreten hatte. Tief eingelassen in die Ehrfurcht gebietende Mauer, die mit ihrer Masse den Berg dahinter zu stützen schien, dass er nicht wie ein Haufen nasser Sand nach außen lief und die sie unüberwindbar vom ersten Ring der Oberstadt trennte, führte dieses Tor hinab in den Stein. In den Insektenbau der Unterstadt. Sie schnaubte, als sie die Wachen passierte; beide fast im Stehen eingeschlafen. Wieder nach unten…
Vor ihr tat sich ein schier endloser Schacht auf – Stein zu allen Seiten und die Nacht tief in seinem Rachen. Tief, tief, tief hinein in den Berg, wurde die Wunde geschlagen, mit regelmäßigen Hieben und klaren Schnitten. Und dann war das Licht hinter ihr verbannt an die Oberfläche, als das Tor geschlossen wurde und der Berg sie verschluckte.
Ohne den Schein der vielen Fackeln und Laternen gewohnten sich ihre Augen mit jedem Schritt weiter an die Dunkelheit und schon bald konnte sie die ersten Umrisse des Insektenbaus im allgegenwärtigen, trüben Licht erkennen. Hier gab es keine Ordnung, keine Ringe, die die Stadt einteilten, keine Straßen, nur aufgegebene Vorhaben von Struktur und die klaren Linien, die den Eingang der Unterstadt prägten, verschwanden bald. Wild wuchs die Stadt in und aus dem Stein. Höhlen und Gänge geschlagen, wo Platz dafür gefunden wurde, Kammern aus Holz oder Stahl oder Trenner aus einfachem Leinen, wo benötigt.
Giræseas Weg führte sie vorbei an den wenigen Läden, die sich kurz nach dem Tor gesammelt hatten. Anders als auf dem Markt dort draußen herrschte hier Stille. Ohne sie weiter zu beachten, schritt sie die zwei Treppen hinunter zu dem, was wohl einmal als dritte Etage geplant gewesen war, bevor die Gebäude begonnen hatten, wie ein Pilz zu wuchern und sich zu allen Seiten tiefer in den Stein zu fressen.
Von weiter unten hallten die Schreie eines Streits einen breiten Schacht hinauf. Jemand weiter oben auf einem Balkon schrie etwas unfreundliches in einer Sprache, die sie nicht verstand, als Antwort, lachte dann und zog wieder an seiner Pfeife. Jemand stellte sich neben ihn und sie unterhielten sich leise.
Tiefer und immer tiefer stieg sie hinab in die Eingeweide von Merun. Misstrauisch gegenüber jeder dunklen Seitengasse. Vielleicht waren sie ja doch nicht so blöd und hatten ihr mehr als nur einen Attentäter auf den Hals gehetzt. Erst als sie die Tür ihrer Herberge sah, erlaubte sie sich durchzuatmen. Sie hatte sich in einer Nische des Berges eingenistet und verwuchs dort mit dem Stein, als wäre sie schon immer hier gewesen. Vor kleinen Fenstern, die in hölzerne Wände eingelassen waren, hingen kleine Pflanzkästen mit einer breiten Auswahl verschiedener bunter Pilze. Von innen schien trotz der späten Stunden noch warmes Kerzenlicht durch das trüb-grüne Fensterglas und Giræsea war froh, dass der Tresen noch besetzt war. Ein letzter Blick nach hinten in die ewige Nacht des Berges, dann trat sie durch die Tür.
Ein Kronleuchter in der Mitte des Schankraums - einige Kerze schon komplett heruntergebrannt - hielt mit seinem letzten, warmen Licht die Dunkelheit der Straße noch auf Abstand, bevor auch hier der Tag endlich sein Ende finden musste und auch die letzten Gäste den von Wein verlängerten Weg zu ihrem Bett antreten mussten. Zwei von ihnen saßen noch in einer Nische und unterhielten sich leise und als Giræsea die Tür öffnete, drehten sie sich schnell zu ihr, bevor sie in betretenes Schweigen verfielen; die Becher vor ihnen leer und die Kerze ausgebrannt. Ein dritter hing über seinem Tisch und schnarchte laut.
Sie trat in etwas klebriges und ging weiter.
Hinter der Theke aus dunklem Holz, verziert mit Kratzern und unfreiwilligen Schnitzereien, saß der Besitzer in einem Stuhl und schlief friedlich. Die Brille war ihm von der Nase gerutscht und wenn er ausatmete zuckten gelegentlich seine Schnurrhaare. Der korpulente Felin hatte sie an ihrem ersten Tag in Merun hier herzlich aufgenommen und sich seitdem gut um sie gekümmert.
Sie setzte sich schwer auf einen Hocker an der Theke und legte dem Wirt mit einem lauten Klirren zwei Silberkronen hin. Eigentlich hätte sie ihm seinen Schlaf gegönnt - es war spät genug - doch wenn sie noch wach sein musste, dann konnte er sie auch bedienen. Er schreckte doch. “Was? Oh! Ja! Natürlich!” Er rückte seine Brille zurecht. “Unser werter Gast aus dem fernen Westen. Was kann ich für dich tun?”
Ein amüsiertes Lächeln kämpfte sich auf ihre Lippen, als er in der Reflektion einer Flasche seine Haare glatt strich. “Kaheb, was hast du für mich?”
“Ich weiß, ich habe dir was aus Diræth'Asin versprochen, ich weiß, ich weiß, ich weiß. Aber die Lieferung lässt noch auf sich warten.” Er drehte sich zu dem Regal voller Flaschen um und fuhr mit dem Finger über verschiedene Etiketten. “Aber vielleicht wäre das hier etwas für dich.” Mittlerweile saß er die Regalbretter mit Flaschen ohne Aufschrift erreicht und saß in der Hocke hinter der Theke.
“Du weißt, ich bin nicht wählerisch. Stell her, was du hast.” Der Arme machte sich viel zu viel Mühe mit ihnen. Und in dieser Nacht hatte sie keinen Nerv dafür. Sie wollte einen Becher. Der sollte voll sein. Und dann wollte sie ins Bett.
“Nein, nein. Für meine Gäste kann es nur das beste sein. Hier.” Kaheb stellte eine Flasche aus dunklem Glas auf den Tisch. “Der Mann, der mir die verkauft hat, hat behauptet, er habe sie aus Tel Sent. Ich weiß auch nicht genau, was es ist. Sollen wir sie auf machen?”
Giræsea bestätigte mit einer Handbewegung und einem Nicken und der Felin machte sich daran, das Wachs um den Verschluss mit einem Messer zu entfernen. Sie bezweifelte, dass die Flasche wirklich den ganzen Weg von Tel Sent hierher zurückgelegt hatte, nur um dann in der Unterstadt zu enden.
“Ist der Zwerg hier vorbei gekommen?”, fragte sie beiläufig.
“Oh, ja. Er ist schon vor einigen Stunden zurückgekommen und schien nicht gerade glücklich zu sein. Hat sich eine Weile hier mit mir unterhalten, bevor er dann auf sein Zimmer gegangen ist.” Das Wachs war weg und er kämpfte mit dem Korken. “Ich nehme mir vielleicht zu viel raus, aber eure Begleitung… Sie hat schon wieder den ganzen Tag ihr Zimmer nicht verlassen. Ist alles in Ordnung?”
Natürlich musste er fragen. Doch Antwort würde er verdammt sicher keine bekommen. “Alles bestens.” Sie legte ihm noch ein paar Silberkronen auf den Tresen, nahm sich die Flasche und zwei Becher und ließ ihn stehen. Ohne sich nochmal umzudrehen, hielt sie die Flasche hoch - “Danke dafür” - und verschwand aus der Gaststube.
Sie hätte vermutlich etwas mehr mit Älyan und Thorgest darüber sprechen sollen, was sie vorgehabt hatte, aber wahrscheinlich hätte Thorgest dann darauf bestanden, sie zu begleiten. Und das hätte dann wiederum wahrscheinlich nur zu einer ähnlichen Situation wie in Rúnknǫttr geführt. Nur mit deutlich mehr Bart. Naja, es war ja alles gut gegangen.
Kurz bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, stand er auch schon im Nachthemd vor ihr. Eine Hand im geflochtenen Bart, die andere in die Hüfte gestemmt.
“Soso, kommt die junge Dame auch mal wieder zurück.”
Fast musste sie lachen. “Krieg dich wieder ein, alter Mann. Nicht jeder von uns wird hunderte von Jahren alt. Hier.” Sie bot ihm die Flasche an. “Damit entspannst du dich wieder etwas.” Vielleicht kaufte er ihr ab, dass sie nicht gerade um ihr Leben gekämpft hatte.
Er ignorierte die Flasche. “Schau dich an… ein Arm immer noch halb gelähmt. Du hast das Gegengift viel zu spät genommen! Du weißt, dass es dich noch umbringen wird, wenn du so unvorsichtig bist.”
Natürlich wusste er genau, wie es abgelaufen war. Und er hatte das fehlende Gegengift bemerkt. Und natürlich hatte er auch nur ihr Wohlergehen im Sinn, das wusste sie. Wäre es auch nur eine Stunde früher am Abend, wüsste sie es vielleicht sogar zu schätzen.
“Ich musste sicher gehen, dass er sich zeigt. Glaubst du, ein Avius würde sich einer Ork unter normalen Bedingungen stellen?”, versuchte Giræsea, sich zu rechtfertigen.
Er kratzte sich am Kinn. “Ein Avius? In Merun? Nicht die unauffälligste Wahl.” Recht hatte er, aber sie war zu müde, um sich darüber jetzt groß Gedanken zu machen.
“Keine Ahnung… Vielleicht sind sie ja doch nicht so schlau. Was erwartest du denn von drei Idioten, die das Sandmeer nie verlassen haben?”
“Du unterschätzt den Kurr. Sie jagen dich, seit du das Sandmeer verlassen hast”, meinte Thorgest sichtlich besorgt.
“Ja. Und bisher ist es ja noch jedes Mal gut gegangen, oder?”
“Aber das wird sich ändern, wenn wir zu lange hier bleiben. Du bist nicht gerade unauffällig. Wie viele Orks hast du in Merun gesehen?” Er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Es war furchtbar.
“Thorgest, bitte. Müssen wir das jetzt alles hier ausdiskutieren? Du weißt genauso wie ich, warum wir hier sind. Wir verschwinden von hier, so schnell wir können.”
Giræsea drückte sich an ihm vorbei und trat durch die Tür hinter ihm in ihr Zimmer. Einmal drehte sie sich nochmal zu ihm um - “Morgen finden wir ihn und dann verschwinden wir von hier” - und schloss die Tür hinter sich.

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