Die vierte Nacht würde er zum Glück im Sitzen und nicht in der Kälte verbringen. Am späten Nachmittag erreichten sie einen kleinen Bauernhof, der wohl eine alte Wegstation aus der Zeit vor dem Götterkrieg war; massiv, aus einem Stück, gegossen aus flüssigem Stein. Ein beeindruckendes, gewaltiges, klobiges und hässliches Gebäude. Grau und kantig und Stein und Stein und Stein. Nur das zweite Stockwerk besaß Fenster und selbst der Stall bestand aus massivem Stein. Als der Tross ankam, stand ein kleines Mädchen vor der Tür, das sofort im Haus verschwand, um kurze Zeit später, wohl mit ihrem Vater, wieder zu erscheinen. Der Mann verneigte sich kurz vor dem Korporal und wollte wissen, was ihm denn die Ehre dieses Besuches einbrachte. Nachdem ihm kurz die Lage erklärt wurde - natürlich wurden manche Einzelheiten, wie zum Beispiel der Fall des Forts, ausgespart - war er selbstverständlich bereit, der Reisegesellschaft Obdach zu bieten. Seit Kriegsbeginn brachten die Menschen hier dem Kaiserlichen Heer mehr Respekt entgegen.
Sara und Áed wurden zusammen mit den Pferden in den Stall geführt und dort ebenfalls angebunden, bevor der Trupp in der Wegstation verschwand. So saßen sie sich alleine gegenüber. Die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Noch immer hielt sie den Kopf gesenkt; ihr rotes Haar hing ihr ins Gesicht, verdeckte ihre Augen. Auch sie trug noch die blaue Uniform der kaiserlichen Armee. Wie auch bei ihm hatte einer der Soldaten ihr alle Rangabzeichen genommen; eine größere Demütigung für sie als ihn.
“Hast du sie gesehen?”, versuchte er vorsichtig. Es fühlte sich komisch an, nach so langer Zeit wieder zu sprechen.
Kurz hob sie ihren Blick in seine Richtung - matte Augen hinter wilden Strähnen - und senkte ihn dann wieder. Als er schon annahm, sie würde nichts mehr sagen, antwortete sie: “Natürlich... Wie hätte man sie denn übersehen können?” Ihre Stimme war schwach. Sie klang geschlagen.
“Wie bist du ihnen entkommen?”
Áed bereute die Frage sofort. In ihrer Antwort lag Gift. “Was glaubst du, wie ich entkommen bin?” Ihr Kopf schnellte nach oben, Feuer brannte in ihren Augen, verzehrte die Welt und sie. “Willst du, dass ich es ausspreche? Willst du es hören?” Sie spie die Worte aus, als wäre ihr Geschmack bitter und scharfkantig. “Ich bin abgehauen. Ich hatte Wache und als ich gesehen habe, was sich da durch das Blut der Sonne wälzte, bin ich gerannt, verdammt noch mal! Du hättest das gleiche getan. Du hast das gleiche getan!”
Sicherlich hätte sie ihn gerne dafür umgebracht, dass er es jetzt wusste. Ein Korporal, der von seinem Posten geflohen war. In Kriegszeiten gleichbedeutend mit Hochverrat. Aber damit waren sie ja schon zwei.
“Ich werde nicht in dieser verdammten Arena sterben”, zischte sie, “Nicht, wenn ich es verhindern kann.”
Áed wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Dass es wohl keine Möglichkeit gab, von hier zu entkommen? Dass er ebenfalls sofort wegrennen würde, wenn er könnte? Schweigend saß er da, bis ihm auffiel, dass das Pferd neben Sara unruhig wurde. Erst war es nichts, ein kurzes Zucken, ein Schritt zur Seite, bis es schließlich vollends vor ihr zurückwich. Dann konnte auch er endlich erkennen, wieso. Mit jedem Atemzug bildeten sich trotz der fast schon angenehmen Temperaturen im Stall kleine Wölkchen vor ihrem Gesicht. Dann stieg ein dünner Rauchfaden hinter ihrem Rücken auf.
Sie nahm ihren Arm mit den noch rauchenden Enden des Seiles um ihr Handgelenk von ihrem Rücken und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie stand auf, zwar etwas wackelig, doch forderte ihre Präsenz respekt ein. Der Strick fiel schmucklos zu Boden.
“... nicht in der Arena.”
Leicht wankend ging sie zu Áed hinüber und legte ihre Hand auf die Fesseln um seine Handgelenke.
“Eine Magierin also…” Er bemühte sich, so neutral wie möglich zu klingen und nicht zu viel Freude darüber, doch nicht sterben zu müssen, hineinzulegen. Er konnte keiner Magierin dankbar sein.
Sie schnaubte, aber antwortete ihm nicht. Jetzt wurde es auch um ihn herum kalt, aber er sah keine Atemwölkchen vor sich aufsteigen. Dann fluchte Sara leise und sank auf die Knie. “... verdammte Scheiße… nicht gut genug.”
“Was meinst du mit nicht gut genug?” Die Hoffnung auf Flucht begann zu schwinden. “Was ist mit deiner Magie?”
“Nichts ist mit meiner Magie! Sie hat nur Grenzen oder.... Ich habe Grenzen.” Sie sah sich um. “Aber wir kommen hier raus.” In ihrer Stimme lag eine Gewissheit, die Áed in dieser Lage nicht aufbringen konnte. “Scheiße. In Ordnung. Das muss einfach klappen.” Sara verschwand aus seinem Sichtfeld.
“Willst du mir auch sagen, was du vor hast?”, wollte Áed von ihr wissen, doch er bekam darauf keine Antwort. “Lenk ihn einfach ab, wenn er die Reste von ihrem Essen bringt”, war alles, was sie für nötig hielt, ihm mitzuteilen. Dann war er wieder allein mit seinen Gedanken. Was bei allen Höllen hatte sie vor? Was auch immer… sollte sie es versuchen. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Mehr als sterben konnten sie nicht.
Wie jeden Abend kam der gleiche Soldat, um ihnen eine Schüssel mit kalten Resten zu bringen. Er sah, dass Áed alleine war, ließ die Schüssel fallen und fluchte. Einen großen Teil nahm dabei ein, dass er wohl diese Nacht wenig Schlaf bekommen würde, weil er nach Sara suchen musste.
Er begann grob den Stall abzusuchen und grummelte dabei weiter vor sich hin. “Cathán, verflucht… Wer bindet so beschissene Knoten, dass selbst eine einarmige entkommt?”
Als er erfolglos von seiner Suche zurückkehrte, schrie er Áed an, der sich bis dahin Mühe gegeben hatte, mit gesenktem Kopf dazusitzen. “Verdammte Scheiße! Wo ist sie hin?”
“Ich weiß es nicht”, log Áed. “Ich habe hier geschlafen, bis du mich mit deinem Geschrei geweckt hast.”
Der Soldat fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sah nervös zum Bauernhaus hinüber. “Verdammt… Findest du das lustig?”
“Niemals.” Ein wenig zwar schon, aber das zuzugeben würde ihm jetzt wohl kaum helfen.
Er packte Áed am Kragen und zog ihn zu sich heran. “Wo verflucht ist sie hin?”
Schneller als Áed hätte antworten können, war die Hand von seinem Hals und der Soldat griff nach seinem Messer. Dann hatte Sara ihn auch schon zu Boden gerissen. Sie stöhnte auf und verpasste ihm darauf einen Ellenbogen ins Gesicht. Sein Kopf schnellte nach hinten und schlug auf dem Boden auf.
Sie zog sich das Messer aus dem Oberschenkel und besah es sich. Nach kurzer Überlegung schnitt sie dem Mann die Kehle durch. Sie zeigte keine Reue. Zögerte nicht. Der Soldat würde nicht wieder erwachen. Sara wischte die Klinge an der Uniform des Soldaten ab und stand dann etwas wackelig auf und humpelte zu Áed hinüber. Er kommentierte nicht, was sich hier gerade abgespielt hatte. Wäre er nicht gestorben, würden sie beide in Merun in der Arena sterben. So einfach war die Lage. Sara durchtrennte seine Fesseln.
“Kannst du laufen? Wir müssen von hier weg.” Áed sah auf ihren Oberschenkel. Der dunkle Fleck an ihrer Hose breitete sich aus.
“Wie wäre es mit Danke?”, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. “Und wenn wir laufen kommen wir nicht weit.” Sie sah zu den Pferden hinüber. “Wenn wir reiten, sind wir deutlich schneller.”
Áed löste die Hände aus den Seilen. “Vorher sollten wir dein Bein verbinden und dann schnellstmöglich einen Medicus aufsuchen.” Er nahm ihr den Dolch ab und trennte einen langen Streifen von seinem Hemd ab, bevor er ihn ihr wieder gab. Es war nicht das erste Mal, dass sie gezwungen waren, eine Wunde mit Fetzen eines dreckigen Hemdes zu verbinden. Es würde sich entzünden, wenn sie nicht bald die Wunde reinigen und sauber verbinden würden. Áed hatte es schon mehrfach gesehen. Aber zumindest würde sie nicht verbluten. Er band den Streifen fest um ihr Bein und half ihr dann auf.
“Kannst du reiten?”, fragte er sie.
“Gut genug.”
Sie beeilten sich, zwei Pferde zu satteln, was Áed gehörig zu lang dauerte. Wenn sie zu lange brauchten, würde in der Zwischenzeit jemand den Toten vermissen und nach ihm suchen.
Áed half Sara auf ihr Pferd, bevor er sich auf sein eigenes schwang. “Wir sollten schauen, dass wir von hier verschwinden. Hast du den Waldweg gesehen, als wir angekommen sind? Dort verlieren sich am ehesten unsere Spuren”, schlug er vor.
“Mir egal. Hauptsache weg”, kam es leise von Sara zurück. Dann verschwand sie in der Nacht.

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