Ihre Gedanken werden abrupt unterbrochen, als sie etwas am Arm packt. Im selben Moment spürt sie einen Schlag in die Magengrube. Es ist kein besonders starker Schlag, aber es reicht aus, um augenblicklich ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Innerhalb eines Sekundenbruchteiles hat sie einen Dolch aus ihrem Stiefel gezogen und hält ihn dem Vampir an den Hals, bereit ihm die Kehle aufzuschlitzen.

Sie verharrt in der Bewegung.

Es besteht keine Gefahr.

Der Hybrid hat ihr ein Knie in den Bauch gerammt, er stützt sich auf den Ellbogen einer Hand und hält sie mit der anderen am Arm fest, aber er ist immer noch vollkommen harmlos.

Mit hasserfülltem Blick starrt er sie an, zittert aber gleichzeitig wie Espenlaub. Sein Schlag war kaum mehr als ein kraftloses Schubsen und er hält sich mehr an ihrer Hand fest, als dass er sie immobilisieren würde.

Er ist vollkommen ungefährlich.

Sie lässt den Dolch wieder sinken und schüttelt wie zur Bestätigung mühelos den Griff des Elfen ab. Dieser sinkt ohne den Halt ihrer Hand sofort wieder zu Boden.

Sie beugt sich erneut über ihn und versucht das Seil unter seinen Flügeln durchzuziehen. Er faucht schwach und macht wieder Anstalten aufzustehen. Doch sie drückt ihn mit einer Hand wieder zurück auf den Steinboden

„Bleib liegen, wenn dir dein Leben lieb ist“, knurrt sie ihn an.

Kurz noch versucht er gegen sie anzudrücken, doch gibt es nach einigen Momenten schließlich auf.

Mit ein paar mehr Handgriffen beendet sie ihre Arbeit. Der Elf verkrampft zwar jedes Mal, wenn sie seine Flügel berührt, aber er macht keine Anstalten mehr, sie in irgendeiner Art und Weise anzugreifen.

Als sie aus der Zelle tritt und hinter sich abschließt, ist sie in Gedanken bereits bei Ruby und Malo. Die Ärztin sollte mittlerweile dagewesen sein und etwas über ihren Zustand sagen können. Hoffentlich geht es ihnen nicht allzu schlecht. Sie werden wieder in Ordnung kommen, oder? Ruby, Milo, Viktor und…

Ihre Schritte verlangsamen sich, als sie an den Schützen denkt.

Sith…

Eine dumpfe Übelkeit kriecht in ihr hoch bei dem Gedanken an seine mit Leinentuch bedeckte Gestalt.

Wie konnte das bloß passieren? Wie konnte sie es bloß so weit kommen lassen? Was für einen Fehler hatte sie begangen, der ihn sein Leben kostete?

Sie hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt und verloren. Das ist die einfache und schmerzliche Wahrheit.

Die Ritter aus dem engsten Kreis sind schon immer diejenigen gewesen, die am gefährlichsten leben. Sie sind bei jeder Aktion dabei und wenn einmal etwas schieflaufen sollte, sind sie die Ersten, die Schäden davontragen. Doch das ist jedem von ihnen bewusst und sie leisten ihre Schwüre dennoch voller Eifer und Vorfreude.

Sie kann sich noch an seinen Gesichtsausdruck erinnern, als sie ihm die Idee vorgeschlagen hat. Zuerst der verständnislose, ungläubige Blick und dann dieses Lächeln… Wie ein kleines Kind am Morgen seines Namenstages, wenn es seine Geschenke auspacken darf.

Es war auf einem kleinen Turnier, welches sie für die Ritter veranstaltet hat. Beim Bogenschießen haben sich alle halbwegs wacker geschlagen und man hat auch schon fast einen Gewinner zu verkünden gehabt, als jemand vorschlug, sie solle es doch selbst auch probieren, nur zum Spaß.

Zuerst hat sie über die Idee gelacht, aber sich schließlich doch überreden lassen.

Sie hat bei jeder Zielscheibe ins Schwarze getroffen, alles andere wäre eine Schande, nur bei der letzten nicht. Auch die hätte sie getroffen, wäre ihr Pfeil nicht in der Luft entzwei geschossen worden.

Sith war damals der Knappe eines niederen Ritters, deswegen und weil er nicht mit dem Bogen umgehen konnte, hat er nicht am Turnier teilgenommen. Er war gerade erst 16 geworden und nicht am Wettkampf teilnehmen zu dürfen hatte ihn wohl genug gekränkt, um ihn ein wenig sabotieren zu wollen.

Sein Ritter war außer sich vor Wut und hätte ihn geohrfeigt, wenn die Fürstin nicht dazwischen gegangen wäre. Er hatte sie beeindruckt. Eigentlich wollte sie einen Bogenschützen in den näheren Kreis bringen, aber derartige Fähigkeiten waren bei jeder Waffe wertvoll.

Als sie sich schon umdrehen wollte, um das Turnier zu verlassen, meldete sich der junge Knappe noch einmal zu Wort:

“Meine Fürstin, wenn sie gestatten, noch eine Bitte.”

Sie blickte zurück auf den Jungen, Hoffnung lag in seinen Augen.

“Ewas früh, um nach einer Bitte zu fragen, denkst du nicht, Knappe?”, fragte sie in einem gespielt tadelnden Ton. Doch der junge Schütze schien den Unterton zu überhören.

“Entschuldigt, Milady.”, gab er kleinlaut von sich, den Blick zu Boden gesenkt.

“Keine Sorge Sith, ich scherze nur. Was liegt dir am Herzen?”

Er blickte wieder auf und wieder ist diese Hoffnung in seinen Augen gelegen.

“Milady, wenn sie gestatten.”, hat er begonnen, “Ich habe einen kleinen Bruder, nur drei Jahre jünger als ich. Wir sind beide Weisen und ich habe geschworen auf ihn aufzupassen. Er kann hervorragend mit der Armbrust umgehen, er ist…”

“Sith”, hat sie ihn unterbrochen und sofort stahl sich eine Spur von Furcht in seine Augen, “Wie heißt dein Bruder?”

“Viktor, Milady”

“’Ich habe diesen Wettkampf geplant, um einen Bogenschützen in den engeren Kreis zu bringen, aber irgendwie scheint das nicht zu klappen.”

Sie schmunzelte.

“Stattdessen wird sich mein Kreis um zwei außerordentlich talentierte Scharfschützen erweitern. Das scheint mir ein gutes Geschäft.”

Seine Augen sing groß geworden, als er das gehört hat.

“Sith, ich verspreche dir, von nun an werde ich auf deinen Bruder aufpassen”