Ihre Schritte hallen durch den engen Korridor der gewundenen Treppe. Es gibt kein Gelände und so muss sie sich an den unverputzten, kühlfeuchten Wänden festhalten, um auf den grob aus Stein gehauenen Stufen nicht auszurutschen.
Mit jedem Schritt, der sie weiter nach unten bringt, wird die Luft um sie herum etwas kühler und feuchter. Im Sommer hatte sie das immer als angenehm empfunden und sich regelmäßig ins Verlies begeben, um der brütenden Hitze des Mittags zu entkommen. Doch jetzt, als die letzte Wärme des Jahres langsam mit den Blättern der Bäume verschwindet, wäre sie fast überall lieber als im modrigen Kerker unter der Erde.
Nicht zuletzt auch wegen ihrem unfreiwilligen Gast.
Während sie um die letzte Windung biegt, versuchte sie sich vorzustellen, was genau sie dort unten vorfinden wird. Gestern war der Elf noch ein kläglicher Schatten seiner selbst gewesen.
Vor ihrem inneren Auge taucht die vor Erschöpfung zitternde Gestalt auf. Der Kjot ni´t, der Blutsfluch, hatte ihm ziemlich zugesetzt. Die Frage war nur, wie lange die Folgen des verfluchten Blutes anhalten würden.
Sie tritt durch den steinernen Bogen, der die Wendeltreppe vom Rest des Verlieses trennt. Vor ihr liegt ein Gang, der an einer eisernen Tür zur ehemaligen Folterkammer endet. Den Korridor säumen an der linken Seite drei Gefängniszellen. Sie sind an drei Seiten von Mauern umgeben, nur an der Seite, die in den Korridor ragt, wurde die Wand durch ein robustes Gitter aus metallenen Stäben ersetzt.
Der Elf befindet sich in der hintersten von ihnen.
Sie bleibt vor der Zelle stehen. Der Gefangene sitzt mit dem Rücken zur Wand in einer der Ecken, die Hände schlapp über seine angewinkelten Knie gelegt und starrt vor sich ins Leere.
Erst nach einigen Augenblicken der Stille, würdigt er ihre Anwesenheit mit einem kurzen, müden Blick in ihre Richtung, gefolgt von einem abwertenden Schnauben.
“Die große Fürstin selbst. Welchem Umstand verdanke ich diese Ehre?”
Sogar der Spott in seiner Stimme wirkt kraftlos. Unter seinen Augen liegen dunkle Ringe und sein Atem geht langsam und schwer, so als würde allein das ihn unmenschliche Kraft kosten.
“Ich sehe nur nach, ob du noch am Leben bist”, gibt sie desinteressiert zurück.
“Ah, natürlich. Es muss viel spannender sein, einem Lebenden den Kopf abzuschlagen als einem Toten. Ist das der Grund, warum ich noch atme?”
Er dreht sich nun ganz zu ihr und starrt ihr in die Augen. Das Licht der winzigen, vergitterten Fenster an der obersten Kante zwischen Wand und Decke reicht kaum aus, um den Raum zu erhellen und so sind seine schlitzförmigen Pupillen im Halbdunkeln geweitet genug, um fast menschlich auszusehen. Die grünblaue Iris brennt sich ihr förmlich in die Netzhaut, aber sie hält seinem Blick stand und erwidert ihn kühl.
Als sie keine Antwort gibt, seufzt er nur und dreht sich wieder weg. Den Blick an die Decke gerichtet fragt er dann:
“Wann ist es denn so weit.”
Anstatt ihm zu antworten, schweigt sie nur weiter.
Das würde sie erst erfahren, wenn der Bote mit einem Brief der Oberin zurückkehrt. Aber sie hat nicht vor, ihm das zu verraten. Er braucht nicht wissen, dass für seine Hinrichtung noch kein Datum feststeht.
“Muss schon sehr bald sein. Es sei denn, der Plan ist es, mich vor Hunger und Durst schon vorher umkommen zu lassen. Zugegeben, es würde die Arbeit des Scharfrichters schon deutlich erleichtern”, stichelt er, immer noch von der Fürstin abgewandt.
Seine Frechheit empört sie. Wie kann der Vampir es wagen, von ihr so etwas zu verlangen?
Sie schnaubt: “Ich werde dir sicherlich keinen Zugang zu menschlichem Blut verschaffen. Außerdem wirst du als Vampir auch problemlos ein paar Tage ohne aushalten.”
Er wendet sich wieder zu ihr, diesmal steht Verachtung in seiner Mine.
“Ich bin zum größten Teil Elf, falls es die Hautfarbe nicht verraten hat.”
Wie zum Beweis präsentiert er ihr seinen Handrücken.
“Und als Elf würden mir ein Stück Brot und ein Becher Wasser vollkommen ausreichen.”
Noch einen Moment lang blickt sie ihn schweigend an, dann dreht sie sich auf dem Absatz um und verlässt den Kerker. Auf dem Weg nach draußen, hört sie den Elfen frustriert aufseufzen.
Sie hatte nie allzu sehr darüber nachgedacht, was Halbvampire von Vampiren unterschied. Ihrer Ansicht nach waren sie alle gleich. Eine Bedrohung, die durch einen abgeschlagenen Kopf schnell gebannt werden konnte. Viel mehr interessierte sie daran nicht. Dementsprechend hatte sie sich noch nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wieso Vampire außer Blut keine andere Nahrung zu sich nehmen konnten, oder ob das bei Halbvampiren anders aussieht.
Am obersten Treppenabsatz angekommen, lenkt sie ihre Schritte Richtung Küche.
Vampire konnten sich eine Zeit lang von tierischem Blut ernähren. Allerdings nicht für immer, denn wenn sie zu lange kein menschliches Opfer fanden oder überhaupt kein Blut bekamen, fingen sie an zu schwächeln, bis sie an Unterernährung starben.
Das war es zumindest, was ihr gesagt worden war. Ob es der Wahrheit entsprach, hatte sie nie getestet. Die Köpfe waren auf dem Boden, bevor irgendwer ans Verhungern denken konnte.
Sie greift sich ein Brötchen vom Küchentisch und füllt einen kleinen Krug mit frischem Brunnenwasser.
Als sie sich wieder umdreht, um zurück in den Kerker zu gehen, beginnen plötzlich schwarze Punkte vor ihrem Sichtfeld zu tanzen. Sie schafft es gerade noch, den Krug abzustellen und sich an der Wand abzustützen, bevor sich alles um sie herum zu drehen beginnt.
Eine Weile lang klammert sie sich an den kalten Stein und wartet, bis ihre Sicht wieder klar ist und der Schwindel nachlässt.
Sie hatte sich schon gefragt, wann das passieren würde.
Nach ein paar Atemzügen richtet sie sich wieder auf, greift nach dem abgestellten Krug Wasser und setzt ihre Reise zum Kerker fort.
Der Vampir sitzt immer noch in der Ecke. Er hat sein Gesicht in seinen überkreuzten Armen verborgen und als er zu ihr hochsieht, scheint er überrascht. Sie gibt ihm das Brot und Wasser durch die Gitterstäbe.
Seine Mine geht von überrascht zu verwirrt über, als er in ihr Gesicht blickt.
“Du blutest”, bemerkt er wie nebenbei, während er den Krug mit Wasser neben sich ablegt und in das Brötchen beißt.
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