Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Sommer
Titanengrab
Als die Sonne tief am Himmel hing und die Hitze des Nachmittages nachgelassen hatte, brachen sie ihr Lager ab und setzten ihre Reise fort. Thorgest hatte sein Versprechen gehalten und nicht weiter nach ihren Wunden gefragt und Iora war dankbar dafür. Sie gingen ihn nichts an. “Was wollt Ihr eigentlich in Myrar?", fragte Iora ihn, als sie die Plane zusammenrollten.
“Oh, ich bin nur auf der Durchreise - danach geht es weiter nach Norden, nach Qarahad. Ich will in Myrar nur meinen Proviant aufstocken, den du mir so eifrig aufisst”, meinte er mit einem Augenzwinkern. “Außerdem bin ich dort mit einer alten Freundin verabredet. Ich hoffe, sie ist nicht in Schwierigkeiten.”
“Bitte, ich werde an einem Tag wohl kaum so viel essen, wie Ihr”, antwortete Iora verächtlich und fühlte sich kurz darauf schuldig. Er hatte ihr nichts davon geben müssen und hatte ihr dennoch geholfen. Sie überspielte es. “Passiert es öfter, dass sie in Schwierigkeiten ist?”
Sie hatten gerade die letzten Reste von Thorgests Habseligkeiten in Taschen verstaut und dem Esel - Nasr, war sein Name, wie Thorgest ihr verraten hatte - aufgeladen. Viel war es nicht. Wahrscheinlich besser so, wenn man alleine durch die Ödnis reiste.
“Ich habe sie das erste Mal getroffen, da saß sie in Diræth’Asin vor einem Schankhaus auf der Straße, mit einem blauen Auge und ihrem Hemd voller Blut und Wein. Aufgerissene Knöchel und betrunken. Nicht ihr bester Tag.” Er lachte in seinen Bart hinein bei der Erinnerung. “Sie wollte nicht mit mir reden, damals. Meine Hilfe wollte sie auch nicht; es hat etwas Überzeugungsarbeit gebraucht. Am Ende hat sie sich dann aber von mir zusammenflicken lassen.”
“Eine Schlägerei in einem Schankhaus? Hat sie dir erzählt, wie es dazu gekommen ist?” Das war nicht die Art von Freund, die sie von diesem Zwerg erwartet hätte. Grobschlächtig, unkultiviert, betrank sich und prügelte sich dann. Iora mochte sie nicht.
“Ja, aber das ist ihre Sache. Und verrate ihr bitte nicht, dass ich dir diese Geschichte erzählt habe.”
“Kein Wort über meine Lippen.”
Dann brachen sie auf, um unter der weit wohlwollenderen Sonne eines frühen Abends ihre Reise nach Norden fortzusetzen. Und auch, wenn Iora diesem Zwerg nicht traute und ihn vielleicht sogar falsch eingeschätzt hatte, war es gut, nicht alleine gehen zu müssen. Und es war gut, ein Ziel vor Augen zu haben, anstatt blind umherzuirren.
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Als dann auch die letzten Strahlen der Sonne hinter dem Horizont verschwunden waren und Sénbhe und Dhénia in einem Feld aus Blumen-Sternen ihrem ewigen Tanz folgten, schlugen sie im schwachen Schatten eines gewaltigen Findlings endlich ihr Nachtlager auf. Thorgest bat sie, nach Feuerholz - oder irgendetwas brennbarem - zu suchen, während er selbst sich darum kümmerte, Zelt und Plane zu spannen und Nasr zu versorgen. Ihre Aufgabe stellte sich als deutlich schwieriger heraus, als sie angenommen hatte. In diesem Landstrich wuchs zum größten Teil nur dürres Gestrüpp, das die Götter wohl speziell dafür geschaffen hatten, sowohl dieser kargen Umgebung, als auch ihr standzuhalten. Als sie schließlich mit zwei Armen voll bedauernswert dünnen, aber dafür umso zäheren Zweigen zu ihm zurückkehrte, war Thorgest mit seinem Teil der Arbeit bereits fertig. Zur Begrüßung reichte er ihr einen Becher, den Iora dankend annahm, nachdem sie ihre ehrenhaft erlegte Beute vor dem kleinen Zelt abgelegt hatte. Die Schuldgefühle, die sich in ihren Geist gebohrt hatten, weil er schon wieder das wenige, was er bei sich hatte, mit ihr teilte, wurden sofort aus ihr herausgebrannt, als das flüssige Feuer ihre Kehle hinab lief. Nach einem langen Tag hatte sie sich über etwas zu trinken gefreut und einen großen Schluck genommen. Zu groß. Der Geschmack von Anis war überwältigend. Er hing auf ihrer Zunge, in ihrem Rachen. Und unter alledem war es süß. Sie verzog das Gesicht und als sie ausatmete, brannte die selbe Wärme, die aus ihrem Bauch aufstieg, durch ihre Nase. Sie hielt sich den Handrücken vor den Mund. “Das ist kein Wasser.”
Thorgest lachte laut und Iora war sich nicht sofort sicher, ob sie es ihm nicht vielleicht übel nehmen würde. “Nein, nein. Das war ein langer Tag heute, wir haben uns mehr verdient. Trink”, forderte er sie auf und prostete ihr zu. Zweifelnd sah sie hinab in den Becher in ihrer Hand. Das fahle Licht der tanzenden Schwestern spiegelte sich im milchig-weiß-trüben Inhalt. Sie dachte, sie wäre darauf gefasst, doch auch beim zweiten Schluck verzog sie das Gesicht. Wieder lachte Thorgest. “Meine letzte Flasche, aber man sollte die Gelegenheit, mit neuen Freunden zu trinken, nicht ungenutzt verstreichen lassen.” Er leerte seinen eigenen Becher. “Und meinen guten Araq tausche ich gern für gute Gesellschaft.” Er stockte. “Moment. Wie alt bist du? Kann ich dir den überhaupt geben?” Allein schon aus Protest auf diese Aussage leerte Iora ihren Becher. Und bereute es. “Meinte Güte, Kindchen, beweisen musst du mir nichts.” Er hatte auf jeden Fall seinen Spaß.
Er stellte seinen Becher auf den Boden und begann, die Früchte ihrer Jagd aufzuschichten. Iora spielte mit ihrem eigenen Becher und beobachtete, wie sich die Wärme aus ihrem Bauch langsam in ihrem Körper auszubreiten begann. Als er schließlich fertig war, begutachtete er sein Werk und war zufrieden. Dann nahm er sich einen recht kleinen Zweig und hielt ihn zwischen seinen Händen. Ein dünner Rauchfaden stieg zwischen seinen Fingern empor und als er leicht über seine offene Hand blies, erwachten erste kleine Flämmchen in der Feuerstelle und begannen ihren zuckenden Tanz. Er legte das Stöckchen zu den anderen.
Iora sah ihn mit großen Augen an. “Seid Ihr ein Magier? Könnt ihr mir das beibringen?” Sie hatte gedacht, es gab keine Magier mehr, sie war sich so sicher gewesen. Seit dem Götterkrieg und dem Edikt und der Inquisition– In Ardport hatte sie von Hinrichtungen gehört, von Folter. Sie hatte gedacht, das Wissen wäre längst ausgestorben. Aber ihr ehemaliger Meister– Natürlich konnte es auch noch andere geben. “Ihr müsst es mir beibringen”, platzte es aus ihr hervor.
“Ach, das ist nur ein kleiner Trick, den ich aufgeschnappt habe. Den kann ich dir beibringen. Aber du musst vorsichtig sein. Du weißt, wie es dieser Tage hier ist.”
Sie setzte sich neben ihn ans Feuer und beobachtete den unsteten Tanz. Sie wusste, wie es dieser Tage war. Doch sie konnte sich als Elfe schon nicht auf der Straße zeigen, was würde es da noch für einen Unterschied machen, ob sie Magien weben konnte oder nicht? “Ich dachte, es gibt keine Magier mehr”, log sie zur Hälfte.
“Oh doch, ein paar von uns gibt es noch. Auch, wenn wir nicht mehr viele sind, wir sind noch da”, raunte er in verschwörerischem Ton, doch dann sah er wieder in die Flammen und sein Ton wurde trauriger. “Aber ich vermisse sie. Es sind zu wenige übrig. Niemand mehr, der lehren kann oder will, der der nächsten Generation beibringen will, zu verstehen. Die Welt ist ärmer, ohne die Magie.” Er seufzte. “Die Narben des Götterkrieges tragen wir alle mit uns herum.”
Damit hatte er ihren Enthusiasmus deutlich gedämpft. Um sich von dem unangenehmen Gefühl abzulenken - und vielleicht auch ihn - hielt sie ihm den Becher hin, um ihr nachzuschenken. Sie wollte nichts mehr davon, doch es schien ihr besser, als in diesem Moment zu sitzen.
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Als Thorgest ihr ein Stück von dem Fladenbrot reichte, nahm sie es dankend entgegen und fragte ihn dann zögerlich: “Ihr wisst also von der Zeit vor dem Götterkrieg? Wie war es damals? Wie war die Welt voller Magie?” Natürlich hatte sie ihren Meister auch gefragt, doch hier saß jemand, der es wirklich wusste.
“Man sagt, es war die Zeit der Götter, der Torwächter und der großen Helden.” Er riss auch für sich selbst ein Stück vom Brot ab. “Eine Zeit der Wunder. Und vielleicht auch der Abenteuer, wenn man den Geschichten glauben will. Die Leute waren damals auch nicht so anders, als sie es heute sind, aber die Welt… Sie war lebendiger, durchsetzt von der Magie der Götter. Ich will nicht sagen, dass wir sie vergessen haben, das stimmt nicht. Wir wenden uns immer noch an sie, beten zu ihnen, fragen nach Rat, erbitten ihren Segen, hoffen, dass sie uns den Weg nach Hause zeigen. Und wir hoffen, dass sie uns erhören und sich uns erbarmen. Aber können wir uns sicher sein, dass sie da sind? Wie viele wurden schon vom Strom der Zeit davongewaschen? Damals war es anders. Es heißt, man konnte sie um sich fühlen. Nomdatir und Ninḫursaĝ in den Felsen, Bergen und in der Erde um uns, Tivone in den Flüssen und Seen und klaren Bergbächen, Dhadia im Südmeer, Dhat-Badan in Oasen, Demæthe in den Wäldern, die es lange nicht mehr gibt. Tarnath und Varnith und Haphas in Feuern und der Sonne. Anfúar in eisigen Winden und Irdorath in einem gewaltigen Sturm, wenn sie zur Jagd ruft. Es war eine Welt, in der die Götter lebten, eine Welt, die durch sie lebte. Wenn du in das Feuer schaust, siehst du sie? Indeera? Naarus? Nythys?”
Er reichte ihr ein Stück Käse und schien auf ihre Antwort zu warten. Die Elfe biss in ihr Brot und schaute auf das Feuer. Die Flammen fraßen gierig an den Zweigen. Eine dünne Rauchfahne tanzte darüber in der heißen Luft. Funken schwebten empor und fielen langsam wieder zu Boden. Doch es war nur ein Feuer. Ihm war nichts Göttliches inne.
“Nein”, gab sie enttäuscht zurück. Sie hätte es sich gewünscht.
“Ich auch nicht. Ich würde viel dafür geben, sie zu spüren. Sie haben sich schon so langen nicht mehr auf dieser Welt gezeigt, die Leute fangen an, sie zu vergessen. Und sie finden neue Götter.”
Die zweite Frage, die in Iora brannte, hielt sie zurück, bis sie aus ihr herausbrach. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, für so unangebracht sie sie auch hielt. “Und wer seid Ihr, dass ihr so viel darüber wisst? Ihr seid ein Magier, ihr versteht euch auf Heilung oder spielt die Rolle zumindest sehr überzeugend; sprecht von alten Zeiten.”
Falls es ihr die Frage übel nahm, zeigte er es zumindest nicht. Es war nicht so, dass er ihr eine Antwort darauf schuldete, doch sie wollte zumindest wissen, mit wem sie es zu tun hatte. “Ich bin nur ein Wanderer und ein Medicus und vielleicht habe ich in meinen langen Jahren etwas zu viel über die Welt erfahren.” Er lächelte, vollkommen gelassen. “Aber dann erlaube mir bitte die gleiche Frage: Wer bist du?”
Sie überlegte lange; kaute lange auf der Antwort herum, wie auf einem trockenen Stück Brot. “Niemand. Jetzt nicht mehr.”
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Trotz seines Angebots schlug Iora ihr eigenes Nachtlager auf, fort vom Zelt des Zwerges. Mit der Glut zwischen ihnen fühlte sie sich sicherer. Und sie wollte alleine sein. “Schau mich nicht so an”, schnauzte sie Nasr an, der einfach das Pech gehabt hatte, gerade in ihre Richtung zu schauen. Später, wenn sie sich sicher war, dass Thorgest schlief, nahm sie ihre Decke und rollte sich auf der anderen Seite des Findlings auf der noch warmen Erde ein und versuchte, zu schlafen.
In dieser Nacht weinte sie. Weinte um ihr altes Leben; wie es nie wieder sein würde. Weinte ob des Verrats. Um den Mann, von dem sie geglaubt hatte, ihn gekannt zu haben, den sie für das nächste gehalten hatte, was sie zu einem Vater je hatte. Und sie weinte um die Welt, der im kalten Licht der Monde alle Farbe zu fehlen schien. Weinte ob der Scham, die in ihr brannte und die letzten Reste ihrer Seele zerfraß. Und um ihrer selbst, die sie nicht mehr war, nicht mehr sein konnte.
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Iora wurde von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne geweckt und die Welt in ihren warmen Tönen schien nicht mehr so grausam, wie noch in der Nacht zuvor. Trotzig ging sie zurück zur Feuerstelle, fest entschlossen, ihm nicht zu antworten, sollte Thorgest danach fragen, warum sie fort gewesen war. Er war so gut, es nicht zu tun. Schweigend bauten sie das Zelt ab und beluden Nasr wieder - Iora entschuldigte sich bei ihm und kraulte ihn zwischen den Ohren. Iora war dankbar dafür, nicht reden zu müssen. Der kühle Morgen verriet noch nichts von der drückenden Hitze, die sie um Mittag erwartete und sie zur Rast zwang. Daher entschieden sie, schnellstmöglich aufzubrechen, um die Zeit, die ihnen blieb, zu nutzen. Thorgest bot ihr etwas trockenen Käse und Brot als ein kleines Frühstück und besah sich dann ein letztes Mal ihren Verband. Er entschied, dass er noch einen Tag überstehen würde. Und so gingen sie und folgten einem unsicheren Pfad, den nur Thorgest sehen konnte.
In der Geist-leerende Ödnis des Titanengrabes verschwammen die Welt und Ioras Gedanken zu einer immer-gleichen Wolke aus Staub, aufgewühlt unter ihrem Schritt. Und durch den Schleier aus Asche und Rost begann sie es in einem entfernten Winkel ihres Sichtfeldes zu sehen: Das Symbol der Daeva. Fahl, pulsierend, mit zuckenden Kanten. Doch wenn sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte, zog es sich tiefer in sie zurück.
Die Erinnerungen an ihren Meister hatte sie in ein fernes Zimmer ihres Geistes verbannt, tief im Labyrinth, das sie so bald nicht wieder betreten wollte. Der Marsch durch das Ödland, der gedankenlose Trott, es half ihr. Immer nur einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht stehen bleiben. Es lag eine gewisse Genugtuung darin, sich mit jedem Schritt weiter von ihrer Vergangenheit zu entfernen.
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