Gegen Mittag hielten sie, um zu rasten. Die Sonne stand hoch in ihrer Bahn und zwang sie dazu. Um sie herum war endloses Nichts. Die Schlucht, der sie gefolgt waren, hatten sie schon vor einer Stunde verlassen und waren ohne weiteren Anhaltspunkt über das Plateau gegangen. Iora war dem Zwerg gefolgt. Sie hatte darauf vertraut, dass er den Weg kannte. Jetzt sah sie sich hier um. Es gab wieder überwiegend nur Gestrüpp, nichts, das auf Leben deutete, außer vielleicht ein paar Gräser mit Halmen, die eher Nadeln glichen. Einzig ein Paar von vertrockneten Bäumen trotzte der sengenden Mittagssonne. Unter ihnen spannten sie die Plane und setzten sich in ihren Schatten.
“Danke, dass Ihr mich mitnehmt”, begann Iora. “Ich wüsste nicht, wo ich alleine hin sollte. Ich wäre hier draußen gestorben.”
“Ach Kindchen. Ich hätte dich nicht einfach dort stehen lassen. Wir Wanderer müssen uns doch helfen, wo wir können. Sonst wäre es eine sehr einsame Welt, in der wir hier leben.” Und er meinte es ehrlich. “Du wirst schon noch die Chance haben, dich zu revanchieren. Und sollte es nicht dazu kommen, dann hilf auf deiner Reise jemandem, der weniger Glück hat als du. Dann soll es vergolten sein.”
Am Abend dann hatten sie ihr Lager neben einem kleinen Hain um eine Quelle aufgeschlagen. Es war das erste Mal seitdem sie von der kleinen Hütte im Nirgendwo aufgebrochen war, dass sie so viel Grün, so viel Leben an einem Ort gesehen hatte. Insekten schwirrten und einige letzte Blüten hielten sich spät in den Sommer. Eine Oase inmitten einer Landschaft, verwüstet von Mächten, wie sie die Welt seit diesen alten Tage nicht mehr gesehen hatte. Thorgest hatte ihr erzählt, dass er diesen Ort immer aufsuchte, wenn er nach Norden reiste. Iora hatte wieder nach trockenen Ästen für ein Feuer gesucht und Thorgest hatte in der Zwischenzeit sein Zelt aufgestellt. Dann wollte er sein Versprechen gut machen und ihr seinen Trick mit dem Feuer erklären.
“Hier, nimm diesen Zweig in beide Hände. So.” Er machte es ihr vor. “Die Feuerstelle hier ist für mein Können zu groß, um sie einfach so zu entzünden. Dafür bräuchte es einen besseren Magier. Aber mit diesem Zweig als Fokus kann ich arbeiten. Sieh ihn dir an. Fühle ihn. Er ist aus dem gleichen Material wie all die anderen Äste hier. Das gleiche Holz. Dadurch kannst du eine Verbindung zwischen ihnen herstellen. Du musst nur erkennen, wie sie eins sind. Das ist der erste Schritt.”
Iora hielt den Zweig zwischen ihren Händen. Er war nichts Besonderes. Trockenes Holz. Sie war sich nicht sicher, was sie fühlen sollte. Aber gut, sie würde fühlen.
“Du musst fest in dem Willen sein, dass alles, was du mit diesem Stock machst, auch mit anderen in diesem Haufen passieren wird. Es muss eine Tatsache für dich sein. Zerbrichst du ihn, zerbricht auch ein anderer”, erklärte er weiter.
Und damit hatte er sie verloren. “Aber– Wolltet ihr mir nicht erklären, wie ich Feuer mache?”, unterbrach sie ihn.
“Geduld, Geduld. Dafür musst du erst verstehen, wie die Dinge um dich zusammenhängen. Dieses Wissen wird dich weiter bringen, als die Fähigkeit, ein kleines Stück Holz in Brand zu stecken”, erwiderte er. “Such dir einen zweiten Zweig aus. Und dann konzentriere dich auf die beiden. Sie sind ein und dasselbe. Was mit dem einen geschieht, geschieht auch mit dem anderen. Sie sind verbunden durch die Netze der Magie. Und wenn du erkennst, wie sie eins sind, dann zerbrich deinen. Der zweite wird folgen.”
Sie war nicht überzeugt, doch sie tat, wie er gesagt hatte. Sie wählte einen zweiten Stock aus und prägte sich sein Bild ein. Dann schloss sie ihre Augen. Sie stellte ihn sich vor. So gut sie konnte, formte sie seine Details. Und als sie den in ihrer Hand zerbrach, stellte sie sich vor, wie der andere brach. Doch als sie ihre Augen wieder öffnete, war nichts geschehen. Sie versuchte es ein zweites Mal. Nichts. Ein drittes. Ein viertes, fünftes. Wieder und wieder begann sie von vorne.
Thorgest hatte sie ihren Übungen überlassen und sich derweil daran gemacht, das Feuer zu entzünden und ein kleines Abendessen zu kochen. “Und?”, fragte er sie schließlich.
Sie schüttelte den Kopf. “Nichts. Ich weiß nicht, was das soll. Es sind zwei. Sie sind nicht eins. Wie sollen sie eins sein?” Sie war enttäuscht und frustriert.
“Nun, das herauszufinden ist der Sinn dieser Übung. Du wirst es verstehen, aber es wird dauern. Niemand wird als Magier geboren”, ermutigte er sie. “Aber du siehst, dass es möglich ist.”
Es suchte sich zwei neue aus und versuchte es erneut. Und erneut. Es erstaunte sie, wie wenig ihr ihr eigener Verstand gehorchte, wenn sie etwas von ihm verlangte. Es sollte so einfach sein, sich vorzustellen, wie zwei Stöckchen gemeinsam brachen, doch fest davon überzeugt zu sein, dass es auch so war, war eine Unmöglichkeit. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie es versucht hatte, doch es wurde langsam dunkel, sie fühlte sich ausgelaugt.
“Heute war dein erster Tag in Kontakt mit Magie. Du wirst es verstehen. Komm. Iss.” Wirklichen Trost fand sie darin nicht, doch das würde sie ihm nicht sagen.
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Die Nacht hatte sie wieder unter freiem Himmel verbracht. Gelehnt an einen knorrigen, alten Baum hatte sie dem fast ohrenbetäubendem der Oase gelauscht. Surren und Huschen und Rascheln und Plätschern. Sie hatten ihre Gedanken überdeckt, das Flüstern der verschlossenen Tür in ihrem Labyrinth.
Für den nächsten Tag hatte sie sich noch ein paar Zweige gesucht, mit denen sie auf ihrem Weg üben wollte. Bis sie Myrar erreichten, würde sie es schaffen. Auch, wenn sie mit geschlossenen Augen zweimal fast gegen den Nasr gelaufen war. Thorgest konnte sie beide Male gerade so retten.
Während ihrer Pause versuchte sie, etwas zu schlafen. Sie musste sich eingestehen, dass sie es nicht gewohnt war, so lange zu marschieren. Nicht in dieser Hitze. Und sie hatte schlecht geschlafen.
Die zweite Hälfte des Tages verbrauchte sie ihre restlichen Übungsmaterialien und ging dann ohne weiter. Thorgest ließ sie den ganzen Tag über in Frieden und hing seinen eigenen Gedanken nach. Was diese sein mochten, wusste Iora nicht. Er hatte ihr noch nicht viel von sich erzählt. Aber sie ihm ja auch nicht. Götter, sie war wohl das größere Mysterium von ihnen beiden.
“Es ist nicht mehr weit. Morgen sollten wir Myrar erreichen. Weißt du schon, was du tun wirst, wenn wir dort sind?”, fragte Thorgest am Abend. Eine Frage, die sie sich selbst so noch nicht gestellt hatte. Ihr einziges Ziel war gewesen, dorthin zu kommen und selbst das nur, weil sie wusste, dass es ihre beste Möglichkeit war, zu überleben. Was also würde sie tun, wenn sie dort ankam?
“Überleben, wie bisher”, antwortete sie knapp.
“Hast du keine Familie? Niemanden, zu dem zu gehen kannst?” Er klang ehrlich besorgt. Sie rang mit sich, entschied aber schließlich, dass sie ihm etwas schuldete, dafür, dass er sich um sie gekümmert hatte.
“Ich bin in Ardport aufgewachsen. Auf der Straße. Dort hatte ich Geschwister. Aber mit der Zeit wurden es immer weniger und weniger. Am Ende war dann nur noch ich übrig.” Diese Wahrheit musste genügen. Dass das schon acht Jahre her war, musste er nicht wissen.
Er nickte. “Ich glaube, ich verstehe.” Doch er schien nicht glücklich mit der Antwort. Den Rest des Abends war er - wie auch den Tag über schon - sehr still. Also widmete sie sich wieder ihren Übungen. Was sollte sie auch sonst tun.
“Kind, wir müssen reden”, sagte Thorgest schließlich mit schwerer Stimme. Er wies mit seinem Becher auf sie. “Die Glyphe auf deinem Rücken, ich kenne sie.” Iora stockte. Das war es, wovor sie Angst gehabt hatte. Angst, seit dem Moment, in dem er sie verbunden hatte, ihr Hilfe angeboten hatte, sie mit all dieser Freude aufgenommen hatte. Natürlich. Der Zwerg sprach weiter, langsam und mit sorgsam gewählten Worten: “Ich weiß, was mit dir geschehen wird.” Jedes Wort ein Stich. Das Herz in ihrer Brust schlug schneller und ihr Mund wurde trocken. Gebannt starrte sie ihn an, beobachtete genau, was er als nächstes tun würde. Sie hatte Klauen, er nicht, wenn sie schnell genug war–
“Ich habe sie schon zu oft gesehen. Doch deine ist noch frisch. Vielleicht besteht noch Hoffnung.”
Es fiel ihr schwer zu sprechen. Sie wollte fliehen, doch– “Was meint Ihr damit? Was wird mit mir geschehen?”
Er seufzte und starrte ins Feuer. Folgte mit seinen Augen den kleinen Funken, die in den Nachthimmel stiegen. “Oh armes Kind. Du weißt es nicht? Wie konntest du dich darauf nur einlassen?”
Oh, sie wusste es. Nicht vor zwei Tagen, doch sie verstand es. Es würde an ihrer Seele fressen. Stück für Stück würde sie verschwinden. Sie hatte es gesehen. Sie würde werden, was nie in dieser Welt stehen sollte. Es war falsch. Es gehörte nicht hierher und doch war es in ihr. War sie.
“Könnt Ihr mir helfen?” Sie fühlte sich so schwach. “Bitte…”
“Es ist jetzt ein Teil von dir”, erwiderte er, seine Worte bitter und versetzt mit der unausgesprochenen Trauer, die nur ein zu langes, zu bewegtes Leben bringen konnte. Ihre Finalität trieb ihr Tränen in die Augen. Heiße Tropfen der Verzweiflung, beschämender Schwäche. “Es lässt sich nicht herausschneiden. Du wirst es bis an dein Lebensende in dir tragen. Es wird in dir wachsen. Und es wird versuchen, deinen Willen zu zersetzen. Jeden Tag. Jede Woche. Ich will, dass du das verstehst.”
Eine erste heiße Spur lief über ihre Wange. “Aber es muss etwas geben. Irgendetwas”, flehte sie ihn an. “Wisst ihr denn nichts?” Die Worte schmeckten nach Asche. Warum wäre es leichter, wenn er schreien würde?
“Ich habe dir gesagt: Es besteht Hoffnung, aber du musst dich dagegen wehren. Ich kann dir helfen, deinen Willen zu stärken, aber du musst den Sturm selbst überstehen.”
Danach traute sie sich nicht, weiter mit ihm zu sprechen. Sie sah ihn nicht einmal mehr an. Er wusste also, was in ihr war. Was er denken mochte, wussten nur die Geister. In dieser Nacht fühlte sie sich in ihrer Einsamkeit noch mehr alleine als zuvor. Auch am nächsten Morgen sagte sie kein Wort zu ihm. Wenn sie ihn ansah, sah sie den Schmerz in seinen Augen. Sie fühlte sich auch zu schwach für ihre Übungen. Ihre Sinne taub und ihr Geist zu aufgewühlt und das Flüstern immer laut. Es war wieder wie kurz nach ihrem Erwachen. Sie war alleine und alles, was sie noch voran trieb, war der pure Wille, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wollte davonrennen, aber wohin? Es gab nichts. Also ging sie weiter. Immer gerade aus.
Bis sie in der Ferne eine Mauer aus blass-gelbem Stein erkennen konnte. Myrar. Das also war es. Noch nie hatte sie eine Zwergenstadt gesehen. Stein und Metall und kunstvoll-farbige Verzierungen. Gedrungene Wehrtürme und massige Tore. Und Gärten in der Ödnis. Sie konnte sie sehen. Flache Dächer, die über die Mauer ragten und das Grüne auf ihnen. Terrassen und bunte Sonnensegel und Bäume und Blüten. Und nur eine einzelne Brücke, die von einer Straße hin zu dem Plateau lief, auf dem sich die Stadt befand.
Als sie die Brücke erreichten, sprach Thorgest zum ersten Mal an diesem Tag. “Zieh am besten die Kapuze tief ins Gesicht und verbirg deine Hände. Solange du bei mir bleibst, werden die Wachen dich hoffentlich in Ruhe lassen.”
Iora tat, wie ihr geraten wurde, aber brachte es immer noch nicht über sich, selbst zu sprechen. Was sollte sie auch sagen?
Während sie bedeckt auf das Tor zu trat, verhielt sich ihr Begleiter ganz offen. Ihr Geist juckte. Ihre Nerven spannten. Sie würden sehen, dass er ein Zwerg war und sie hoffentlich passieren lassen. Und was, wenn nicht? Er winkte einer der Wachen zu, als sie passierten, doch diese schien sie nicht weiter zu beachten. Und dann waren sie in der Stadt.

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