Jahr 350 nach dem Götterkrieg, Spätherbst
Dunvegen, Flusslande
Als sie Dunvegen noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichten, war dort nichts zu spüren von dem Schicksal, das Moore vor nur wenigen Stunden befallen hatte. Friedlich lag es auf einem kleinen Hügel mit nur einer Straße, die hinauf zu den kleinen, gedrungenen Behausungen führte, mehr Hügel, als echte Häuser, aus geschichtetem Stein, mit kleinen Fenstern und Reetdächern oder sogar bewachsen mit Gras und Moos. Sie verlangsamten ihre Pferde. Vor ihnen trieb ein Junge eine kleine Herde Schafe vor sich her, durch das Tor in der Mauer aus geschichtetem Stein, herunter von der Weide und in Richtung des Dorfes. Sie passierten ihn und er starrte sie mit großen Augen an. Ein Schaf blökte. Der kalte Herbstwind trug Rauch, den Geruch von Feuer und Stimmen den Hügel herunter. Musik und Gelächter; und als sie näher kamen, auch den Geruch von Essen, von Fett, das ins Feuer tropfte, von frischem Brot, von gerösteten Zwiebeln und Äpfeln und Knoblauch, von Most und Beeren. “Wer zuerst oben ist!”, rief ein Mädchen einem anderen zu und begann, die Straße hinauf zu rennen und sie mit den Gänsen alleine zu lassen. “He! Kommt zurück! Das erzähl ich Mama!”, rief sie ihrer Schwester hinterher. Die lachte nur. Aus dem Gestrüpp zwischen Erlen und Haselnusssträuchern und einem Vorhang aus orangem und gelbem und braunem Laub und mit viel Rascheln stolperten zwei junge Männer in guter Kleidung und sahen überrascht - ertappt - und etwas angetrunken zu Sara und Áed hinauf. Áed grüßte mit einem Wink. Dann lachte einer der beiden und zog den anderen mit sich zum Dorf. “Komm, wir verpassen noch alles.” Sara unterdrückte merklich bemüht ein Kichern.
Áed erinnerte sich an Moore, an die Schreie, an das Blut, an die Toten. Es waren nur ein paar Stunden Ritt– Es war eine andere Welt. Die Leute feierten. Und Áed wusste nicht, wie er diese beiden Wirklichkeiten vereinen sollte.
“Ich bin hier aufgewachsen”, brach Sara ihr Schweigen, mit einem Hauch Leichtigkeit in der Stimme. Sie wies auf einen der kleinen Hügel mit den kleinen Fenstern am Rande des Dorfes, dahinter ein kleiner Zaun, leer und verfallen. “Siehst du den Hof da hinten? Der hat meinen Eltern gehört. Da bin ich zwischen Hühnern und Schafen groß geworden. Die zwei, die da gerade hoch laufen” - Sie meinte die jungen Männer - “sind Ciarán und Éanán– weiß nicht, ob sie mich erkannt haben. Meine Mutter hatte damals gemeint, dass Ciarán vielleicht was für mich gewesen wäre. Naja, ich glaube, das hätte nicht funktioniert. Aber schön zu sehen, dass sich die beiden nicht mehr ihre Köpfe einschlagen.”
Wieso sie das alles hinter sich gelassen hatte, um dem Heer beizutreten, wollte Áed nicht fragen. Jeder hatte seine Gründe. “Kennst du hier noch viele Leute? Jemanden, den du warnen willst? Sind wir deswegen hier?”, fragte er stattdessen.
“Ich bin schon ein paar Jahre nicht mehr hier gewesen. Ich weiß nicht mal mehr, wer noch hier lebt. Der alte Odhrán vielleicht. Den bringt nichts um; wahrscheinlich wird er mich sogar noch überleben. Als Kinder haben wir uns immer seine Geschichten angehört.”
Oben auf dem Hügel, auf einem offenen Dorfplatz stand eine Feuerstelle mit glühenden Kohlen und einem Rost darüber und der Koch scherzte mit einem älteren Mann, bevor er eilig ein paar Spieße umdrehte. Überall waren Menschen und sie lachten und tanzten und aßen und tranken und sie freuten sich und Áed wünschte, er könnte sich davon anstecken lassen. Die Musik verwob sich mit den Gesprächen und dem Gelächter und eine Fiddel wechselte sich mit Stimmen ab, während eine Trommel stetig den Takt vorgab und eine Flöte zwischen ihnen hin und her sprang. Sie saßen ab und führten ihre Pferde durch die Menge, aber auch damit erregten sie immer noch einiges an Aufmerksamkeit. Manche zeigten auf sie - oder auf Sara? - und begannen dann leiser miteinander zu reden. “Wir gehen direkt zu Odhrán”, entschied Sara und ließ keine Widerrede zu.
Einer der beiden jungen Männer, die ihnen auf der Straße begegnet waren, durfte sich hier, etwas abseits der Menschen, eine lange Tirade - vermutlich von seinen Eltern - anhören. Áed hörte nicht zu genau hin, doch er schnappte die wichtigsten Punkte auf. “Was hast du dir dabei gedacht?” und “Wir haben alle auf dich gewartet!” und “Weißt du, wie das aussieht?” Andere Mitglieder der Gemeinde entfernten sich diskret, als auch ihnen bewusst wurde, was passierte.
“Bei den Heiligen! Sárait?”, lallte eine Stimme von der Seite. Sara sah den Mann nicht an. “Du musst mich mit jemandem verwechseln.” Er folgte ihnen. “Doch. Doch! Du bist es!” Er lachte. “Was bringt dich zurück zu uns?”
“Hau ab! Ich weiß nicht, mit wem du mich verwechselst– Ist mir auch scheißegal. Gread leat!”, zischte sie den Fremden an.
“So eine Scheiße– Wollte doch nur Hallo sagen”, murmelte er vor sich hin, als er zurück zu den Feierlichkeiten torkelte.
Áed sah Sara an und zog eine Augenbraue nach oben. Auf die wortlose Frage antwortete sie: “Ich habe jetzt wirklich absolut keinen Nerv für Leute, die meinen, sie hätten mich als Kind gekannt. Weniger, wenn sie betrunken sind.” Als der Fremde endlich weg war, wies sie schließlich auf ein Gebäude, das recht groß schien, für diesen Ort. Es besaß sogar einen Stall. "Dorthin. Hoffen wir, dass er noch lebt.”
Sie führten die Pferde zum Stall und wiesen den Burschen an, sich gut um sie zu kümmern - Sie hatten sie jetzt schon zweimal aus wirklich beschissenen Situationen gerettet. Dann gingen sie wieder nach vorn zur Tür, über der ein goldenes Hufeisen hing. Sara stieß die Tür auf und ließ Áed den Vortritt.
Vier Stufen führten hinab in einen düsteren Schankraum; nur wenig Licht fiel durch die kleinen Fenster, zu wenig für den großen Raum, und auch die Kerzen mit ihren gezähmten Flammen reichten nicht aus, um die Dunkelheit ganz zu vertreiben. So schien es hier, als wäre die Nacht bereits über sie hereingebrochen, obwohl es draußen noch helllichter Tag war. Was Áed überraschend auffiel, war, wie sauber es hier war: kein Geruch von Bier in der Luft, keine klebrigen Flecken auf dem Boden, die Tische gewischt, niemand lag besinnungslos herum. Tische, Stühle und Bänke waren ordentlich aufgestellt und Frauen huschten zwischen ihnen hin und her, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Rechts vom Eingang stand eine einfache Theke; ein Brett über Stein, geschichtet wie draußen für die Mauern um die Felder. Dahinter an der Wand stand ein Regal, voll mit verschiedensten Flaschen und darüber ein Krähenschnabel. Und dazwischen, an der Theke, stand ein Bär von einem Mann. Áed reichte ihm vielleicht gerade einmal bis zur Brust und war vermutlich nur halb so breit. Graue Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden und das Gesicht geziert von einem buschigen, weißen Bart. Als sie hereinkamen, lachte er gerade über einen Scherz, den ein Mädchen gemacht hatte. Sara ging in gerader Linie auf den Tresen zu, stellte sich vor den Riesen, als wäre er der Stallbursche eben, stützte sich auf die gewischte Theke und sah ihn ernst an. “Odhrán, wir müssen reden.”
Verdutzt sah er sie an. “Sara… Wo hast du deinen Arm gelassen?”
Darauf schien ihr keine Antwort einzufallen. Einen langen Augenblick starrten sich die beiden nur an. Bis der Mundwinkel des Mannes zu zucken begann und es schließlich aus ihm herausbrach. Er lachte schallend, sodass einige Gäste überrascht zu ihm herüber sahen. Das Mädchen an der Theke verstand offensichtlich ebenso wenig wie Áed, was hier gerade passierte. Und Sara kämpfte wohl gerade mit den Optionen, den Riesen anzuschreien, ihn zu ohrfeigen oder einfach wieder durch die Tür zu verschwinden. “Was bei Indeeras heiliger Flamme soll die verdammte Scheiße? Ich komme nach Jahren hier vorbei und du lässt mich glauben, du wärst auf deine alten Tage noch schwachsinnig geworden?”
Der Riese wischte sich die Tränen aus den Augen. Als er endlich wieder ruhig atmen konnte und mit hochrotem Kopf antwortete er ihr: “Mädchen, lass mir doch den Spaß. Ja, es ist Jahre her. Es ist schön, dass du wieder da bist! Komm, lass dich ordentlich begrüßen.” Er kam hinter der Theke hervor.
“Gerade ist wirklich der denkbar schlechteste Moment für Scherze”, erwiderte Sara mürrisch.
“Ach komm her”, er fiel auf ein Knie und breitete die Arme aus. “Ich habe dich vermisst.”
“Wenn du mir versprichst, nicht mehr so einen Scheiß zu machen…”
“Versprochen, Sara.”
Sie zögerte zunächst, überwand dann aber doch die Distanz zu ihm und schlang ihren Arm um ihn und er drückte sie fest an sich. “Du weißt, du hättest mir ruhig öfter schreiben können. Ich hab mir Sorgen gemacht. Blass bist du auch.” Dann sah er zu Áed hinüber und sah weit weniger glücklich aus als noch zuvor. “Und wie ich sehe, gibst du dich immer noch mit den verdammten Bastarden des Kaisers ab. Sag mir nicht, dass du–”
“Was soll–”, begann Áed. Was fiel diesem alten Sack eigentlich ein? Sara unterbrach ihn.
“Ganz ruhig ihr zwei. Odhrán, er ist ein Deserteur. Wie ich auch. Deswegen sind wir hier.”
Der Riese musterte Áed noch immer misstrauisch, als er aufstand. “Verdammt. Na gut. Das heißt nicht, dass ich ihm traue. Was ist los? Was bringt dich nach so langer Zeit endlich wieder zu mir?” Er ging hinter die Theke und begann, Bier zu zapfen. “Zumindest zusammen trinken sollten wir. Wer weiß, wie lange ich noch hier bin.”
“Hör auf, so einen Mist zu reden”, rügte ihn Sara. “Aber ich meine es ernst: Wir müssen reden. Sind wir hinten ungestört?” Und damit schien der Ernst der Lage zu ihm durchzudringen.
“Zofia, übernimmst du die Theke für mich?” Das Mädchen nickte zur Antwort. Dann verschwanden sie nach hinten in - wie Áed feststellte - die Küche. Ein kleiner Raum, ein offenes Feuer, darüber ein Topf und ein Tisch an der anderen Wand. Es roch nach Feuer und Qualm und Eintopf. “Caelan, raus hier. Ich muss mit den beiden reden.”
Der Koch legte sein Messer hin. “Dann kümmerst du dich aber um den Eintopf. Ich will nicht, dass mein Ruf darunter leidet.”
“Ja, ist ja gut. Raus hier.” Odhrán winkte in Richtung der Tür und Caelan verschwand nach draußen. “Gut. Und ihr beiden erzählt mir jetzt, warum ihr so schaut, als würde sich jeden Moment die Erde auftun und uns alle in die Höllen hinab reißen.”
Sara ergriff das Wort und Odhrán nahm einen Schluck aus seinem Krug. “Odhrán, das ist Áed. Wir waren zusammen an der Grenze stationiert. Áed, das ist Odhrán, der Riese von Kynvell.”
“Ich hätte dir diese Geschichten nie erzählen sollen. Bitte lass den Namen endlich sterben. Ich bin Odhrán der Wirt. Nicht mehr und nicht weniger”, erwiderte er.
Áed nickte ihm zu. Den Namen allerdings kannte er nicht. Vielleicht jemand, den man hier im Westen kannte. “Wir sind hier, weil wir das Dorf evakuieren müssen”, erklärte Áed.
“Wir sind hier, weil ich Odhrán warnen wollte”, korrigierte Sara ihn.
Odhrán hob beide Hände, um sie zu unterbrechen. “Moment, Moment, Moment. Bitte fangt von vorne an. Ihr habt mir immer noch nichts erklärt.”
Also erklärten sie ihm. Erzählten von dem Tag, an dem Cruidín gefallen war und an dem die Hölle über sie hereingebrochen war. Von ihrer Flucht, ihrer Gefangennahme und erneuten Flucht. Er hörte ihnen zu. Stumm. Nickte. Trank. Hörte ihnen zu, als sie von Moore erzählten, in dem wahrscheinlich niemand mehr lebte. Und sein Gesicht regte sich nicht. Als sie fertig waren, atmete er schwer aus. “Die Götter lassen mir nicht einmal in meinem Lebensabend meinen Frieden.”
“Verdammt, Odhrán! Nicht die Zeit für Scherze! Dort draußen geht alles vor die Hunde. Ihr müsst weg von hier! Ihr alle. Du musst sie überzeugen. Die Leute hören auf dich. Und wenn nicht– Dann zumindest du”, flehte sie ihn an.
Áed konnte nichts in seiner Miene lesen. Hatte er nichts dazu zu sagen, verdammt? “Wenn ihr die Leute bewegen könnt, wie Sara meint–”, wollte ihm Áed eine Antwort entlocken. Irgendeine Reaktion. Wie versteinert war Odhrán dagesessen, bis er Áed unterbrach. Auch das half nicht gerade dabei, Áeds Meinung von ihm zu heben.
“Wenn das wahr ist, dann betet besser, dass uns die Götter gnädig sein mögen. Es ist nur etwas über einen Tag von hier nach Moore.” Tiefe Falten zerfurchten seine Stirn. “Du hättest mich ja nicht einfach so besuchen können, was?”
“Das ist alles?”, brach es aus Áed heraus, bevor er sich zurückhalten konnte. “Ist das alles, was Ihr zu sagen habt?”
Odhrán sah ihn verächtlich an. “Junge, gib mir wenigstens Moment. Ich kann nicht einfach draußen herumschreien, dass die Leute ihre Heimat verlassen sollen. Wir gehen zur Túath, die sollen sich eure Geschichte anhören.”
“Du hast zu viel Vertrauen. Wer ist es? Immer noch die gleichen?”, entgegnete Sara dem Riesen.
“Na, was meinst du denn?”, antwortete er ihr. Sie schnaubte.

Comments (0)
See all