I - Die Schülerin
Die Schülerin saß unter der alten Eiche, um der Hitze der Mittagssonne zu entgehen. Es war einer der seltenen Tage, an denen sie Zeit für sich selbst hatte. Kein Auftrag des Meisters schickte sie nach Ardport oder eines der umliegenden Dörfer. Keine seiner Lektionen fesselte sie an ein Buch. Dieser Tag gehörte ihr. Also saß sie unter der alten Eiche und blätterte in einem Buch. Das Plätschern des Baches und das Zwitschern der Vögel füllten die Einsamkeit hier im Nirgendwo, an dem es außer dem Haus des alten Magiers wenig gab.
Neben sich hatte sie einen Stapel Bücher, ausgewählt aus der Bibliothek des Meisters. Ohne Muster hatte sie ausgewählt, was ihr ins Auge gesprungen war. Die Bibliothek war in stetem Wandel und sie hatte vor langer Zeit aufgegeben, ein jedes ihrer Geheimnisse ergründen zu wollen. Das Haus war klein, doch die Bibliothek darin schien endlos. Der Meister hatte ihr von den großen Bibliotheken erzählt. Von Osena, Rúnknǫttr, Dayaph. Diese Bibliothek in der kleinen Hütte, im Nirgendwo vor der Grenze zum Titanengrab machte ihnen in ihrem Wunder Konkurrenz.
Im Laufe der Stunden schwand der Stapel zu ihrer Linken und der zu ihrer Rechten wuchs, als sie sich ein Buch nach dem anderen vornahm und es dann recht schnell wieder beiseite legte, als es dann doch nicht ihre Erwartungen erfüllte. Über die Sphären war das erste, dass seinen Weg auf die andere Seite schaffte. Hätte jemand anderes das Buch geschrieben, wäre es womöglich ihre Zeit wert gewesen. So jedoch kämpfte sie sich durch Sätze, die kein Ende nehmen wollten und einer Seite entsprangen und dann erst auf der nächsten versiegten. Sie hatte keinen Spaß daran.
Die frühen Jahre des vereinten Königreiches folgte bald darauf. Und recht schnell verstand sie, dass sie an diesem Tag nichts für Geschichte übrig hatte. Damit gab sie dann schließlich die dokumentarischen Werke auf.
Karraighes Wunder hielt jetzt am längsten ihr Interesse. Sie war sehr streng damit, wem sie ihre wenige freie Zeit schenkte, doch das Buch schien das zu verstehen. Kurze Kapitel beschrieben die Wunder eines alten Reiches, das wohl noch vor dem Krieg gefallen war. Türme aus Glas. Künstliches Leben. Flüssiger Stein. Eine Zeit, in der der Kontinent klein war und seine Bewohner fliegen konnten. Es war eine gute Geschichte. Der Autor bewies viel Fantasie.
Als der Himmel begann, sich rot zu färben, besah sie sich ihre beiden Stapel. Sie hatte nicht alles geschafft, was sie sich vorgenommen hatte, doch sie fand, sie hatte ihren Nachmittag gut genutzt. Wahrscheinlich würde sie diese Bücher nie wieder sehen. Ein jedes Mal, wenn sie eines in das Regal zurückstellte, schien es darin zu verschwinden. Nie hatte sie je ein Buch gefunden, dass ihr nicht ihr Meister zu finden aufgetragen hatte.
Sie beobachtete die Abendsonne. Irgendwo dort in dieser Richtung unter ihrem Licht befand sich Ardport. An den wenigsten Tagen vermisste sie seine Straßen. Oder seine Wachen. Es gab Tage, da wäre es ihr lieber, wenn es niederbrennen würde.
II - Der Soldat
Endlich erreichte der Soldat mit seinem Trupp den Stützpunkt Cruidín. Fast einen Monat hatten sie auf der Straße verbracht. Keiner von ihnen verstand, wieso das Heereskommando weitere Bögen und Schwerter an die Grenze beorderte. Erst recht nicht, wenn diese ursprünglich so weit im Norden stationiert waren. Doch ihre Aufgabe war einfach: Sie würden hier im Westen die annektierten Gebiete des Kaiserreiches schützen.
Auf ihrer Reise hatten sie von kleineren Vorfällen erfahren, aber nichts, was so etwas rechtfertigen würde. Doch wenn der Kaiser befahl, folgten sie.
In Cruidín begrüßte man sie etwas verhalten. Auch hier hatte niemand mit Verstärkung gerechnet. Die letzten Monate waren ruhig gewesen. Die Elfen hatten ihr Territorium nicht verlassen, die neuen Grenzen waren sicher. Und seit den Aufständen, die auf Cyndon folgten, hatte es auch keinen weiteren Vorfall mehr gegeben. Damals wurden weitere Stützpunkte errichtet und die Truppenpräsenz erhöht. Das hatte den Frieden für die Städte in diesem Arm des Kaiserreiches gesichert. Auch, wenn die Menschen dennoch zögerlich waren, sich in diesem Teil des Kontinents anzusiedeln. Auch nachdem der Kaiser die Grenzen für Elfen dicht gemacht hatte.
Die ersten Monate in Cruidín waren ruhig. Es gab wenig zu tun, was seine militärische Ausbildung erfordert hätte. Die meiste Zeit verbrachten sie damit, das Land zu kultivieren. Sie fällten Bäume und drängten die Eisenwälder zurück; ebneten Wege, die zu Straßen ausgebaut würden und an einer stelle bauten sie sogar eine Brücke. Der Baumeister wurde erst im dritten Monat nach ihrer Ankunft zu diesem Stützpunkt versetzt. Unter seiner Führung wuchs die Infrastruktur um das Fort und hätten sie ihm nur genug Zeit gegeben, hätte er Cruidín vermutlich in eine Burg verwandelt. Doch der Kaiser brauchte ihn wo anders.
Nach einem halben Jahr kam es zur ersten größeren Welle Elfen, die versuchte, die Grenze zu überqueren. Bis dahin waren es immer nur kleine Gruppen gewesen, die sie leicht abweisen konnten. Eine Patrouille hatte sie entdeckt und ein Trupp Schwerter wurde entsandt, um sie aufzuhalten. Sie schlugen ihr Lager an der Grenze auf. Jeden Tag versuchten sie aufs Neue zu verhandeln. Ohne Erfolg. Das Wort des Kaisers war Gesetz. Die wenigen, die es in die eigene Hand nehmen wollten und in der Nacht die Grenze überquerten, schafften es nicht weit.
Als es zum Aufstand kam, wurde dieser schnell niedergeschlagen. Die Verluste auf der kaiserlichen Seite waren minimal und die Elfen zogen sich in die Eisenwälder zurück. Doch dies war der Anfang. Von da an kam es öfter zu solchen Ereignissen. Und als pflichtbewusste Soldaten schlugen sie die Elfen ein jedes Mal zurück. Bald waren es genug Tote, dass sie mehrere Tage brauchten, um die Leiber zu verbrennen. Doch die Grenzen waren sicher und der Wille des Kaisers durchgesetzt.
III - Die Träumerin
Es war noch laut in der Schankstube, doch die Feierlichkeiten draußen in der Stadt neigten sich endlich dem Ende zu und es würde bald wieder ruhiger werden. Dann würde sie, wie auch all die anderen Orks die Stadt wieder verlassen. Sie würden zu ihren Stämmen oder den freien nomadischen Gruppen zurückkehren. Zu Familien und Freunden. Sie selbst würde mit der Gruppe aus ihrem Stamm die lange Reise über das Sandmeer nach Osten antreten. Auch sie freute sich, ihre Familie wiederzusehen. Ihre Eltern, ihre Schwester und ihren Bruder. Sie waren eine kleine Familie. Es waren schwere Jahre und nicht viele Kinder hatten überlebt. Doch irgendwann hatten die Götter ihre Gebete und Opfer angenommen und acht Jahre nach ihr gab es zahlreichen Nachwuchs. Der Fortbestand des Stammes war gesichert. Sie freute sich auch, sie wiederzusehen. Sie würde ihnen von der großen Stadt erzählen. Von den gewaltigen Tempeln und der Menge an Orks, die hier versammelt war. Sie würde ihnen die Bilder zeigen, die sie gemalt hatte. Von den Statuen der göttlichen Eltern. Von der Sonnwendfeier. Dem alten Tempel und dem neuen. Von den Bäumen, die die Straßen der Stadt säumten. Von dem See, an dessen Ufer die Stadt lag.
Die anderen Bilder würde sie ihnen nicht zeigen. Die, von denen sie geträumt hatte und von denen sie hoffte, dass es nur ihre wirren Gedanken waren. Sie würde sie mit ihrer Mutter besprechen und beraten, wie der Stamm damit umgehen sollte, doch die jungen mussten davon nichts wissen. Sie lagen vor ihr auf dem Tisch und sie starrte darauf, in der Hoffnung, eine andere Bedeutung daraus zu ziehen. Würde sie nur lange genug hinsehen, könnte sie verändern, was dort zu sehen war.
Sie leerte einen weiteren Becher. Die ersten hatten in ihrer Kehle noch gebrannt. Jetzt war es leichter. Sie hatte aufgehört zu zählen. Sie saß schon zu lange hier und doch noch nicht lange genug. Noch immer sah sie die gleichen Bilder vor sich.
Die nächsten Momente waren in ihrer Erinnerung etwas verschwommen. Etwas lief ihr nass über den Kopf und über ihr Gesicht. Hinter ihr lallte eine Stimme irgendetwas, aber sie hörte nicht zu. Vor ihren Augen verliefen die Formen ihrer Zeichnungen zu unerkenntlichem nichts. Sie machte die zwei Schritte zu dem Ork, den sie dafür verantwortlich machte. Im Nachhinein war sie sich nicht mehr so sicher, ob es überhaupt der richtige war.
Ihre Faust traf sein Gesicht und er stolperte. Darauf folgte Geschrei und geworfene Becher. Sie verpasste ihm noch eine, ohne groß auf ihre Umgebung zu achten. Dann traf sie etwas von der Seite. Irgendjemand hielt sie fest. Sie schlug zu und stolperte; riss den anderen mit zu Boden. Mehr Geschrei. Dann stand sie wieder und die Welt drehte sich. Sie wollte sich abstützen, griff ins Leere und fiel zwischen Leiber auf eine Bank. Jemand verpasste ihr eine und sie schaffte es nicht, sich zu wehren; rollte nur zu Boden.
Am Ende lag sie vor der Tür auf der staubigen Straße. Nass und den Geschmack von Blut und Wein auf der Zunge. Mehrere Stellen an ihrem Körper schmerzten und sie entschied sich dagegen, aufzustehen.
Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht, doch sie weigerte sich, aufzusehen. “Geh weg.”
“Ach Kindchen, komm, lass mich dir helfen.”
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