„Lass uns da mal rein gehen. Vielleicht finden wir was Brauchbares. Aber sei still.“
„Ja…“, murrte sie und als Alex seine Beretta zog, zog sie ihr Messer heraus. „Ich mach das nicht zum ersten Mal mit, Alex…“
„Pscht…“, machte er und steuerte auf eine Türöffnung zu, die nur mit ein paar Brettern zugenagelt wurde. Die eigentliche Tür war nicht mehr an ihrem Platz und wurde wahrscheinlich entweder von Mutierten oder von der Miliz heraus gerissen. Er spähte durch die Ritzen in das Innere und lauschte, ob er das Schnaufen von Keifern, Beißern oder Flitzern hörte. Die mutierten Menschen wurden nach der Infektion in drei Stufen eingeteilt. Die erste Stufe wurde allgemein als Beißer bezeichnet, weil die Menschen dort noch verhältnismäßig normal waren. Wenn man einmal von dem abartigen Hunger auf Menschenfleisch absah. Daher kam auch der Name „Beißer“, denn obwohl die Leute noch, mehr oder weniger, bei Verstand waren, bissen sie gern mal zu und konnten teilweise fiese Fleischstücke heraus beißen. Die zweite Stufe waren die Flitzer. Die Menschen begannen sich zu verändern, wurden größer, stärker und vor allem unheimlich schnell. Die Gesichtszüge ähnelten mehr Totenschädeln und das Haupthaar begann dort zu wuchern, wo es eigentlich nicht wuchern sollte. Die Keifer waren die dritte und bisher finale Mutation, zudem auch die mit Abstand gefährlichste. Sie waren gut drei Meter groß, aufgerichtet sogar fast fünf Meter, waren muskulös und etwas langsamer als die Flitzer. Wahrscheinlich durch die Muskelpakete, die sie mit sich rum schleppten. Deren Gesichter waren nicht mehr menschlich, genauso wie deren Beine. Sie ähnelten mehr übergroßen Löwen, da das Haupthaar wie eine Mähne wirkte. Die Sinnesorgane waren weitaus besser ausgeprägt als die der anderen Stufen, daher musste man sich besonders in Acht nehmen. Zum Glück gab es nicht ganz so viele Keifer wie Flitzer und Beißer, aber dennoch gab es definitiv zu viele von ihnen. Den Namen hatten sie aufgrund ihres Gebrülls bekommen, das sie beinah unentwegt ausstießen. Furchteinflößend, aber wenigstens erkannte man sie dadurch schon, bevor man in unmittelbarer Nähe war. Alex hatte mal eine unschöne Begegnung mit einem von ihnen gemacht, als er vier Jahre zuvor allein mit Rachel unterwegs war. Ein Keifer hatte sich in dem Haus aufgehalten, wo die Geschwister nach Vorräten suchten. Rachel wurde zuerst bemerkt, weil sie ihrem Bruder ständig irgendwas zeigen wollte, womit sie nichts anfangen konnte. Der Keifer kam allerdings vor Alex bei ihr an und hätte sie wahrscheinlich zerfetzt, wenn Alex nicht dazwischen gegangen wäre. Dafür bekam er die Krallen des Mutierten zu spüren und trug noch immer einige ziemlich unschöne Narben davon, die sich über seine gesamte linke Schulter bis zum Schlüsselbein zogen und auch am linken Unterarm mehr als deutlich zu sehen waren, mit dem er die Pranke abwehren wollte. Er wäre beinah daran verblutet, überlebte dies aber wie durch ein Wunder und musste sich seitdem zusammen reißen, nicht in Panik auszubrechen, wenn er einen Keifer irgendwo sah. Nach seiner Genesung brachte er sich das Schießen mit einem Präzisionsgewehr bei und erledigte jeden Keifer, wenn er ihn schon vom Weiten bemerkte.
„Hörst du was…?“, flüsterte Rachel und riss ihn aus seinen Gedanken. Er brauchte einige Zeit zum Antworten.
„Außer dich…?“ Er lauschte noch einen Moment und schaute sich dann an der Fassade um. „Bin mir nicht sicher. In dem Verkaufsraum scheint keiner von denen zu sein, ich weiß aber nicht, ob die anderen Räume auch mutantenfrei sind. Pass auf, wo du hintrittst.“, sagte er dann, als er an der Wand entlang ging und durch Scherben trat, die unter seinen Schuhen knirschten. Er suchte nach einer Öffnung, durch die sie in das Innere gelangen konnten, fanden aber nur offene Fenster in den oberen Etagen. Unmöglich da rauf zu kommen, dachte er und schaute sich wieder links und rechts um. Er dachte kurz daran, ob sich in den Wohnhäusern irgendwo eine Leiter auftreiben ließ, doch so, wie es hier aussah, war das ziemlich unwahrscheinlich.
„Heb mich mal hoch, Alex.“, sagte Rachel dann und schaute zu einem der Fenster hinauf. „Mit 'ner Räuberleiter komm ich da vielleicht hoch und kann dich dann hoch ziehen.“
„Vergiss es.“, antwortete Alex ohne lang zu überlegen, während Rachel ihn empört ansah. „Ich lass dich nicht zuerst da rein gehen, wenn ich nicht weiß, ob da alles sicher ist.“
„Ich bin kein kleines Kind mehr, du Idiot.“
„Ist mir sowas von egal…“, schnarrte er sie an und wollte sich grade auf die Suche nach einer Einstiegsmöglichkeit machen, als Rachel Anlauf nahm und hoch springen wollte. Allerdings fehlte noch ein gutes Stück bis zum Fensterbrett.
„Komm schon, Alex. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, um irgend 'ne Leiter aufzutreiben!“
„Sei still, verdammt…!“, zischte er sie an und als sie sich die Hand an den Mund schlug, schaute er zum Fenster hinauf. Sie hatte recht, dass sie keine Zeit für eine ewig lange Suche hatten und wer weiß, ob sie überhaupt was Brauchbares finden würden. Andererseits dachte er wieder an den Vorfall mit dem Keifer und er fühlte sich absolut nicht wohl dabei, sie in ein Gebäude zu hieven, wenn dort ein Mutierter sein Unwesen treiben könnte. „Also gut…“, gab er schließlich nach, stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand und faltete seine Hände zu einem Auftritt. Rachel setzte einen Fuß in seine Hände und er drückte sie nach oben. Er war froh, dass sie nicht schwer war. Schließlich kam sie grade so an das Fensterbrett an, stieß sich aber dennoch an seiner Schulter ab, um besser hoch klettern zu können. Als sie im Inneren des Raumes war, schaute sie nach unten.
„Unmöglich, das ist viel zu hoch.“, sagte sie dann und schaute sich im Raum um. „Warte hier.“ Sie verschwand vom Fenster und Alex rief leise nach ihr, doch sie kam nicht wieder. Genervt und besorgt zugleich fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare und überlegte, wie er in dieses verdammte Gebäude kam. Doch es dauerte nicht lang, bis Rachel nicht weit entfernt ein Fenster im Erdgeschoss öffnete und ihn heran winkte. Verdutzt ging er zu ihr, sprang durch das Fenster und schaute sich um.
„Alles in Ordnung?“, fragte er dann.
„Nee, ich glaub ich bin gebissen worden.“, antwortete sie dann erschreckend ernst und Alex fuhr zu ihr herum. Panik kroch in ihm auf und bevor er irgendwie reagieren konnte, lachte sie plötzlich. „Ich bin nicht mal 'ne Minute weg gewesen… Und die paar Sekunden hab ich für den Weg hier runter in Anspruch genommen. Kack nicht gleich ein.“ Er kniff die Lippen zusammen und wandte sich dann wieder ab. Es brachte nichts, jetzt einen Streit mit ihr anzufangen. Schweigend schaute er sich in den Räumen um, während Rachel ihm folgte und zuletzt gingen sie in den Verkaufsraum. Zu ihrer Verwunderung war hier noch beinah alles unangetastet.
„Jackpot.“, sagte Alex und lächelte seine Schwester an, die ebenfalls lächelnd durch die Gänge ging. „Kaum zu glauben, dass das in den letzten fünfzehn Jahren niemand entdeckt hat…“
„Ob es einer anderen Siedlung gehört?“, fragte sie und er zog die Schultern hoch.
„Und wenn… Jeder ist sich selbst am nächsten, oder? So wie das hier aussieht würde es nicht schaden, wenn wir uns bisschen bedienen.“
„Aber wir haben doch selbst ein Lager.“
„Ja… Wenn wir Glück haben, dann halten die Vorräte da vielleicht noch für zwei oder drei Wochen, dann heißt es wieder außerhalb der Stadt jagen zu gehen.“ Rachel verzog das Gesicht, denn der Gedanke an die Jagden gefiel ihr gar nicht. Die Jäger, zu denen auch Alex gehörte, waren meistens zwei Tage unterwegs, da sie die Stadt verlassen mussten und jedesmal kamen weniger Leute wieder.
„Wir können doch wiederkommen, wenn unsere Vorräte sich dem Ende neigen. Dann werden wir sehen, ob die Sachen jemandem gehören oder ob wir uns was weg nehmen können.“
„Ja ok… bin nicht sonderlich scharf drauf einen Krieg gegen 'ne andere Siedlung anzufangen, nur um 'ne Woche länger nicht jagen zu gehen.“, gab er dann nach und Rachel nickte zustimmend. „Auch wenn das hier sicher 'nen Monat reichen würde…“
„Es wird auch noch 'nen Monat reichen, wenn wir in zwei Wochen wiederkommen. Lass uns lieber weiter nach einer Bleibe suchen oder umkehren. Es wird schon dunkel.“ Alex schaute raus und erschrak etwas, als er den niedrigen Sonnenstand bemerkte.
„Wir sollten lieber umkehren. Für heute reicht's.“, sagte er dann und schaute sich noch einmal kurz in dem Raum um. „Warte kurz, die haben hier sicher irgendwo Batterien. Fällt sicher nicht auf, wenn ich mir 'ne Packung weg nehme.“ Er suchte die Regale nach ihnen ab, fand aber nur ein leeres Fach. Ein Preisschild gab an, dass sie dort einst lagen, doch offenbar wurden sie bereits alle mitgenommen. Strom war heutzutage Luxusware, die sich kaum noch jemand leisten konnte. Nur Menschen, die Sonnenkollektoren sammelten oder Kraftwerke besetzten, hatten Strom. Alex und Rachel gehörten zur ersteren Sorte, doch selbst sie wussten, dass sie mit der Elektrizität sparsam umgehen mussten. Obwohl sie „nur“ dreiundzwanzig Leute waren und genug Sonnenkollektoren auf dem Dach hatten, um ein ganzes Hochhaus versorgen zu können.
Alex kletterte aus dem Fenster, das Rachel für ihn geöffnet hatte und als seine Schwester ebenfalls draußen war, zog sie es leise zu, damit nicht jeder sofort mitbekam, dass man dort leicht einsteigen konnte. Eilig gingen sie dann zurück und es war bereits stockfinster, als sie das Gebäude endlich erreichten. Die Geräusche auf den Straßen rund herum wurden immer unheimlicher und sie hörten mit jedem Meter mehr Laute der Mutierten. Rachel bekam es schnell mit der Angst zu tun, doch Alex beschleunigte nur seinen Schritt. Die ersten beiden Stufen der Mutation kümmerten ihn nicht, auch wenn die Flitzer furchtbar schnell waren. Bisher konnte er sie rechtzeitig nieder strecken, bevor sie zu einer Gefahr wurden. Keifer hörten sie keine, weswegen Alex noch erstaunlich ruhig bleiben konnte und seine Stimmung färbte so sehr auf seine kleine Schwester ab, dass sie sich ebenfalls so sehr zusammen reißen konnte, nicht befürchten zu müssen schreiend im Kreis zu laufen.
Als sie in das Gebäude gingen und die vielen Treppen hinauf stiegen, standen sie oben plötzlich vor Leandra, die ihnen mit vor der Brust verschränkten Armen den Weg vertrat. Ihre Miene sah ebenfalls nicht sehr freundlich aus und Alex zog die Brauen zusammen.
„Fang jetzt bloß keinen Streit an.“, schnarrte er sie an, als sie grade den Mund aufmachte, um etwas zu sagen.
„Manchmal frag ich mich, ob du nur Grütze im Hirn hast, Alex…!“, meckerte sie dann doch und für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl wieder acht Jahre alt zu sein und vor seiner Mutter zu stehen. „Denkst du auch nur EIN EINZIGES Mal nach?!“
„Ich denk öfter nach als du. Immerhin bin ich von uns beiden der Einzige, der dafür sorgt, dass regelmäßig Essen im Haus ist.“, antwortete er gelassen. Er hatte eigentlich absolut keine Lust auf diese Diskussion, aber irgendwann musste sie geführt werden, wenn Leandra nicht endlich einsichtig werden würde. „Du versuchst mir ständig zu verbieten, länger als bis zum neuen Lager draußen zu bleiben. Was machst du, wenn das Lager erschöpft ist? Die anderen fügen sich dir, weil sie Schiss vor dir haben, weshalb niemand nach neuen Nahrungsquellen sucht. Willst du, dass wir wieder jagen gehen und so viele Leute verlieren, wie wir Wild mit nach Haus bringen…? Die Herde ausdünnen, um weniger Mäuler verpflegen zu müssen?“ Leandra schwieg und starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Verwirrtheit an. „Offenbar ist es genau das. Aber weißt du was? Ich häng an den Leuten hier und ich will mit keinem von ihnen jagen gehen, wenn ich weiß, dass es noch genug Essen in der Stadt gibt. Oder eine Bleibe, wo wir sicherer sind als hier und wo wir vielleicht irgendwas selbst anbauen könnten. Daran schon mal gedacht, Leandra?“
„Natürlich hab ich daran gedacht…!“, schnarrte sie ihn endlich an, doch er lächelte nur ermattet.
„Langsam zweifle ich an deinen Entscheidungen. Wenn deine Tochter noch-“ Bevor er den Satz beenden konnte, hatte er sich eine saftige Ohrfeige von ihr eingefangen. Sie stand zitternd, mit Tränen in den Augen und mit wutverzerrtem Gesicht vor ihm und hob drohend den Finger.
„Ich hatte dich mehr als einmal gewarnt dieses Thema ruhen zu lassen…!“ Einen Augenblick schwiegen alle, dann ergriff Leandra wieder das Wort. „Wenn dir meine Entscheidungen nicht passen, dann nimm deine Sachen und verschwinde endgültig von hier!“ Alex sog die Luft scharf durch die Nase ein, als er diese Aufforderung hörte und Rachel klammerte sich an seinen Arm. „Ich bin es leid, dass ich dich jedesmal belehren muss! Wir leben nicht mehr in derselben Welt wie damals!“
„Denkst du, das weiß ich nicht?!“ Er erhob nun auch seine Stimme. „Aber ich tu wenigstens was für unser Überleben, während du nur noch hier drinnen hockst und andere die Drecksarbeit erledigen lässt! Im Gegensatz zu dir würde ich dort draußen doppelt so lang überleben!“
„Jah… Das hab ich gesehen, als der Keifer dich erwischt hatte…!“, antwortete sie spottend und Alex verging die Sprache. „Du wärst ohne mich dran krepiert und mit Rachel im Schlepptau wird das wieder passieren!“ Rachel holte Luft und wollte sich ebenfalls auskotzen, doch ihr Bruder unterbrach sie sofort mit einer Handbewegung.
„Rachel ist nicht mehr die vierzehnjährige Göre von damals und ich bin inzwischen auch erfahrener. Du hättest mit deiner Tochter“ Leandra erhob wieder die Hand gegen ihn, doch er hielt sie rechtzeitig am Handgelenk fest, bevor sie ihn wieder schlagen konnte. „… eine genauso gute Zielscheibe abgegeben. Ob mit oder ohne sie, du bist schwach geworden. Deswegen verkriechst du dich hinter uns anderen, machst mich bei jeder Gelegenheit nieder und reagierst so allergisch, wenn jemand deine Tochter erwähnt. Du bist nicht die einzige, die einen geliebten Menschen verloren hat. Linn hat alle ihre Kinder verloren und wir beide unsere Eltern, also hör auf mit dieser scheiß Aktion, die du zurzeit abziehst…!“ Leandra riss sich von ihm los und wandte sich ab.
„Ich will, dass du dir in nächster Zeit eine neue Bleibe suchst. Du bist hier nicht länger willkommen.“ Ohne die beiden Geschwister anzusehen, blieb sie an der Tür stehen. „Rachel, du kannst hier bleiben, wenn du willst, auch wenn ich weiß, dass du eher mit ihm gehen würdest.“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie in ihre Räume und schmetterte die Tür hinter sich zu.
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