„Was zur Hölle ist denn in die gefahren…?“, fragte Rachel leise, ließ den Arm ihres Bruders los und schaute zu ihm hoch. Er steckte grade gehörig im Zwiespalt, ob er einfach gehen sollte oder ob er Leandra von ihrem „Thron“ stoßen sollte. Die anderen wunderten sich mittlerweile auch über ihr Verhalten, hatten aber Mitleid mit ihr, da der Tod ihrer Tochter noch nicht all zu lang her war.
„Keine Ahnung…“, antwortete er schließlich seiner Schwester und fuhr sich durch die Haare. „Was denkst du…? Hier bleiben und sie von ihrem hohen Ross reißen oder sollten wir lieber gehen?“ Rachel zog die Schultern hoch.
„Ich bin ein pubertäres Mädchen, die offenbar mehr ein Klotz am Bein ist. Du bist hier der Erwachsene und egal, wofür du dich entscheidest, ich bleib an deiner Seite.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich heran.
„Du bist kein Klotz am Bein.“, murrte er und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Er war unheimlich froh, dass er seine kleine Schwester hatte und obwohl sie öfter furchtbar anstrengend war, liebte er sie mehr als alles andere.
„Du solltest 'ne Nacht drüber schlafen und mit den anderen reden, was sie davon halten, dass du gehen sollst. Immerhin hast du recht damit, dass du Hauptverpfleger bist und ich glaub nicht, dass die alten Säcke ohne dich auf die Jagd gehen wollen.“
„Hm…“, machte Alex nur, zog die Schultern hoch und ging dann mit Rachel in deren Räumlichkeiten.
Am nächsten Morgen war Alex bereits früh wach und als er im Bett liegend an die Decke starrte, war er noch immer nicht schlauer, was er tun sollte. Aus Rachels Zimmer war nichts zu hören, weshalb er davon ausging, dass sie noch schlief. Er stand auf, zog sich so leise wie möglich an und ging dann raus. Er ging eine Etage runter und klopfte dort an die Haustür, wartete einen Augenblick und als sich nichts rührte, klopfte er erneut. Jetzt hörte er im Innern Schritte und kurz darauf wurde die Tür geöffnet.
„Alex… Egal, was du willst… es ist noch zu früh…“, murrte der Mann mittleren Alters, kratzte sich verschlafen am Kopf, trat dennoch zur Seite, damit Alex eintreten konnte. Als Alex drin war, knallte der Mann, Grant, die Tür wieder zu, zuckte aber zusammen, weil es zu laut war.
„Hast 'nen Kater?“, fragte der Jüngere lachend, doch der Ältere schüttelte den Kopf.
„Ich war zu lang wach und es ist definitiv noch zu früh, um mich aus dem Bett zu schmeißen…“
„Sorry. Aber ich hab 'n Problem, das nicht warten kann.“ Grant runzelte die Stirn und ließ sich auf das Sofa fallen.
„Ich würde ja sagen, dass ihr jungen Menschen ständig nur Probleme habt, aber aus deinem Mund klingt das schon ziemlich ungewohnt.“, antwortete er dann und gähnte. „Also…? Was ist los?“ Alex schilderte ihm die Situation mit Leandra und daraufhin verfiel Grant ins Grübeln. „Bist du sicher, dass sie dabei bleibt? Klingt so, als ob sie das nur sagte, weil du ihre Tochter erwähntest.“
„Keine Ahnung…“, seufzte Alex. „Aber ehrlich gesagt hängt mir ihr Verhalten zurzeit zum Hals raus. Ständig motzt sie mit mir rum und benimmt sich schlimmer als meine Mutter damals. Wenn sie mir sowas an den Kopf haut, bin ich nicht scharf darauf, weiter mit ihr unter einem Dach zu leben, solang sie das Sagen hat.“ Grant schaute ihn prüfend an. „Ich wäre schon längst weg, wenn ihr anderen nicht wärt.“
„Um uns brauchst du dir keine Sorgen machen.“ Jetzt war es Alex, der die Stirn runzelte.
„Ihr seid ein Haufen alter Leute. Nimm's mir nicht übel, aber von deiner Sorte wohnen hier zu wenige.“
„Und du meinst, mit einer Person mehr oder weniger würden wir einen Angriff überleben?“
„Ich würde es gar nicht erst so weit kommen lassen. Ich bin nicht umsonst den ganzen Tag lang draußen. Wenn Mutierte in der Nähe wären oder die Miliz 'nen Angriff starten würden, bekomm ich schnell genug davon Wind. Rechtzeitig genug, um euch alle zu einem sicheren Platz zu bringen, was Leandra nicht einsehen will…“ Grant lachte kurz.
„Ich werd' mit ihr reden. Und mit den anderen werd' ich mich zusammen setzen und beraten, was zu tun ist. Ich bin sicher nicht der Einzige, der dich und Rachel ungern gehen lässt und dass Leandra langsam den Verstand verliert, haben wir auch schon mitbekommen. Also“ er klopfte Alex unsanft auf die Schulter. „überlass das ruhig mir. Ich wasch der Zimtzicke schon den Kopf.“ Alex lächelte, bedankte sich und verließ die kleine Wohnung, um seine Ausrüstung zu holen. Als er grade wieder raus gehen wollte, kam Rachel verschlafen aus ihrem Zimmer und rieb sich in einem Auge.
„Wo willst du hin…?“
„Raus. Willst du mit?“ Rachel nickte und gähnte, worüber Alex lachen musste. Wahrscheinlich würde sie lieber wieder ins Bett gehen, statt draußen mit ihrem Bruder herum zu laufen. „Dann beeil dich.“ Es dauerte nicht lang, bis Rachel fertig war und die Geschwister auf den Straßen unterwegs waren. Alex wollte heute einiges schaffen. Priorität hatte immer noch die Suche nach einer neuen Behausung, sowohl für die anderen, als auch eine kleine Wohnung für sich und Rachel allein, da er nicht sicher war, ob Grant die Situation mit Leandra geklärt bekommt. Am Nachtmittag wollte er sich in einem kleinen Lager der Miliz umhören, was sie so geplant hatten und den restlichen Tag würde er wohl wieder damit verbringen, Lebensmittel und Medikamente zu suchen. Und so war es schließlich auch. Am Abend, als er und Rachel wieder nach Haus kamen, warf sie sich sofort in ihr Bett, während Alex noch zu Grant ging und nach dem aktuellen Stand der Dinge fragte. Allerdings konnte Grant ihm noch nichts sagen, da er den anderen erst die Situation erklärt hatte und sie die nächsten Tage darüber beraten würden. Also musste sich Alex noch einige Zeit gedulden.
Letzten Endes dauerte es eine Woche, bis die anderen sich entschieden hatten. Alex war in der Zeit so gut wie möglich Leandra aus dem Weg gegangen und wenn es sich nicht vermeiden ließ, schaute sie ihn an, als ob sie ihm die Pest an den Hals wünschte. Nicht mal zum Essen kam er nach Haus, sondern suchte sich Reste aus Lagern zusammen oder schnorrte bei Bekannten aus anderen Siedlungen. Wenn das weiter so geht, zieh ich freiwillig aus…, dachte er, als er mit Rachel eine Woche später draußen herum lief.
„Alex, wollen wir noch mal nach diesem Lager sehen, das wir letzte Woche gefunden haben?“, fragte sie nach einer Weile und er überlegte, ob das eine gute Idee war.
„Nee… noch nicht. Ich will nicht so viel Aufsehen erregen, wenn wir ständig dort rum lungern. Ich hab aber gehört, dass in der Nähe von dem Lager ein paar Wohnungen in gutem Zustand sind. Die wollt ich mir anschauen.“ Rachel zog die Augenbrauen zusammen.
„Wohnungen für uns beide allein oder für die anderen auch?“, fragte sie, doch er zog die Schultern hoch.
„Werden wir sehen.“ Es dauerte eine Weile, bis sie die Wohnungen gefunden hatten. Die beiden Gebäude, die sich recht ähnlich waren, hatten etwa zehn Etagen und Alex war erst skeptisch, als er die Fassade hinauf schaute. Die Fenster waren zum Teil komplett zerschlagen gewesen und es würde schwer werden eine Wohnung zu finden, die noch intakte Glasscheiben hatte. Allerdings hatte die Lage ihn direkt überzeugt. Die Gebäude standen recht frei, nördlich lag der Willamette River und sowohl südlich als auch östlich gab es große Parkplätze. Selbst wenn ein Keifer sich anschleichen würde, würde man ihn direkt sehen. Als sie die Sperrholzplatte aufbrachen, die als Ersatz für die Tür diente, staunten sie nicht schlecht. Drinnen sah es wirklich erschreckend gut aus, dafür, dass das Gebäude etwa fünfzehn Jahre leer stand. Auch die einzelnen Wohnungen waren recht groß und geräumig. „Sieht doch ganz gut aus.“
„Ganz gut, Bruderherz? Diese Wohnungen sind zu schön, um wahr zu sein. Bist du sicher, dass du deinen Leuten vertrauen kannst, die dir diesen Wahnsinnstipp gegeben haben?“
„Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich unseren Leuten vollends vertrauen kann. Ich behalt die Gegend die nächsten Tage im Auge und werd' dann sehen, wie gefährlich es werden könnte. Wir sollten uns mal nach Nestern umsehen. Je eher wir die Hässlichen in der Nähe finden, desto eher könnten wir hier unter kommen.“ Rachel nickte und zusammen gingen sie dann raus. Im näheren Umkreis fanden sie nur vereinzelt herum streunende Mutierte, die aber eher starben, als dass sie die beiden Geschwister entdecken konnten. Auf dem Rückweg liefen sie beinah an dem ehemaligen Einkaufscenter vorbei und wie auf Kommando knurrte Rachels Magen. Alex schaute sie amüsiert an.
„Fällt doch nicht auf, wenn wir nur 'ne Dose Erbsen da raus holen, oder?“, fragte sie dann, doch Alex war sich da nicht so sicher. Dennoch gab er nach und sie stiegen wieder in das Gebäude ein, wo sie die unzähligen Lebensmittel gefunden hatten. „Scheint bisher niemand hier gewesen zu sein.“, bemerkte Rachel und ging durch die Reihen, auf der Suche nach einer Dose Erbsen. Die grünen Kugeln waren ihre Leibspeise und sie wünschte sich seit Jahren schon einen Garten, wo sie selbst welche anpflanzen könnte.
„Hoffen wir, dass es so bleibt.“ Plötzlich hörten sie ein Brüllen, das ziemlich dicht schien, die beiden Geschwister zuckten zusammen und versteckten sich sofort hinter den Regalen. „Wir mussten den Teufel ja an die Wand malen…“, flüsterte er so leise, dass selbst Rachel es kaum verstand, die in seiner Nähe hockte. Kurz darauf ertönte das Gebrüll erneut, diesmal war es jedoch noch dichter und es dauerte nicht lang, bis ein paar andere Keifer, die weiter entfernt waren, darauf antworteten. „Scheiße…“, murmelte Alex, nahm sein Gewehr und entsicherte es. „Wir brauchen einen besseren Platz. Von hier seh' ich die nicht.“
„Oben gab's doch so 'nen kleinen Raum…“, sagte Rachel flüsternd und Alex erinnerte sich daran. Der Raum war, wenn es hoch kam, grade mal fünf Quadratmeter groß, hatte aber ein Fenster, das sie zur Not als Fluchtweg benutzen konnten.
„Ok, dann hoch. Achte auf alles hinter mir und weich mir nicht von der Seite.“ Als Rachel nickte, richtete Alex sich auf. Aber nur so weit, dass er über die Regale schauen konnte, um die Keifer zu finden. Er sah sie nicht und setzte sich langsam und so leise wie möglich in Bewegung. Er hoffte, dass kein Weibchen dabei war, sonst brachte alles Schleichen absolut nichts.
„Alex… da kommen drei Keifer von meiner Seite…!“, flüsterte Rachel aufgebracht und Alex fuhr schlagartig herum. Die Kreaturen, die hinter den verbarrikadierten Fenstern herum schlichen, schnüffelten erst auf dem Boden und reckten die Gesichter dann in die Luft.
„Scheiße… Weibchen…!“ Alex stieß in Gedanken sämtliche Flüche aus, die er kannte, schnappte sich das Handgelenk seiner Schwester und zog sie mit sich aus der Verkaufshalle, in den hinteren Flur und die Treppe hinauf. Hastig suchte er das kleine Zimmer, fand es zum Glück auch schnell und warf Rachel regelrecht herein. Er schloss die Tür, ohne selbst hinein zu gehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Holz. Rachel hämmerte gegen die Tür und schrie, dass er ebenfalls rein kommen sollte. „Rachel, halt die Klappe…!“, fuhr er sie so leise wie möglich an. Obwohl sie nun vier Jahre älter war, hatte sie noch immer nicht gelernt, wann sie ruhig zu sein hatte. Genervt behielt er die Tür durch sein Visier im Auge und würde jeden Keifer erschießen, sobald er durch die Tür kommen würde. Seine Brust schnürte sich mit jeder Sekunde mehr und mehr zu und schließlich streckte der erste Keifer seinen Kopf durch die Türöffnung. Ohne zu zögern drückte Alex ab und verpasste dem Wesen ein Luftloch für das Gehirn. Durch den Lärm, den der Schuss verursacht hatte, brüllten die übrigen Keifer und nun wusste er, dass die anderen auch im Gebäude waren. Wie sind die so schnell hier rein gekommen, verdammte Scheiße… Er hörte schon die nächsten die Treppe hoch trampeln und lud mit schnellen Handgriffen sein Gewehr nach. Drei weitere kamen herein, die er ebenfalls schnell niederstreckte, doch dann kamen vier auf einmal durch die Wand geprescht. Der trockene Putz flog durch die Gegend, zusammen mit Holz- und Gips-Stücken. Panik machte sich in ihm breit und er zog seine Beretta. Er schoss und ein weiterer Keifer fiel zu Boden, allerdings war der noch nicht tot. Alex hatte aber keine Zeit, ihm den Gnadenstoß zu verpassen, da die übrigen Keifer bereits auf ihn zuschossen. Mit einem Sprung wich er aus und einer der Mutierten sprang durch die Fensterscheibe auf die Straße, während die anderen sich noch bremsen konnten. Die zwei, die noch mit ihm im Raum waren, erschoss er mit einigen Schüssen und schaute sich dann zu dem um, den er nur angeschossen hatte. Er rührte sich nicht und schien doch gestorben zu sein. Pumpend wie ein Maikäfer schaute er zum Fenster und machte langsame Schritte drauf zu. Der Keifer war verschwunden, Alex hörte aber keine Klauen, die auf dem Boden schabten und auch kein Brüllen. Er versuchte seine Gedanken zu sammeln und sich zu beruhigen, schaute im Magazin nach, wie viele Patronen noch drin waren und schob sicherheitshalber ein neues Magazin in die Waffe. Scheiße… ich hasse diese Dinger…, kreiste ihm noch immer im Kopf herum und öffnete die Tür, hinter der Rachel war. Besorgt und erschrocken schaute sie ihn an, fiel ihm um den Hals und wimmerte irgendwas, das er nicht verstand.
„Alles in Ordnung…?“, fragte er und sie nickte nur. Alex atmete tief durch und war unglaublich erleichtert, dass keinem was passiert war. Er war heilfroh, dass er das Schießen so gut beherrschte, auch wenn er über die Hälfte eines Magazins auf zwei Keifer verschossen hatte, aber immerhin waren die nun tot und er war unverletzt.
„Wo kamen die so schnell her…? Wir hatten doch alles abgesucht…“, fragte seine Schwester dann und schaute aus dem Fenster, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
„Keine Ahnung… Wir sollten verschwinden, sobald ich den anderen erwischt hab. Bin nicht scharf drauf, dass er unsere Spur nach Haus verfolgt.“ Rachel wollte grade nicken, als sie plötzlich einen entsetzten Ausdruck aufsetzte. Alex wunderte sich kurz, konnte sich den Grund aber recht schnell erklären. Der Keifer, den er angeschossen hatte, war sicherlich noch nicht tot. Ich bin so ein Volltrottel!, mahnte er sich und als er grade zu dem Keifer herum fuhr, sah er aus den Augenwinkeln etwas Dunkles, das auf dem Mutierten landete. Es war ein Mann, der auf dem Rücken des Keifers hockte und in der rechten Hand ein Schwert hielt, dessen Klinge er dem Gegner durch den Kopf gerammt hatte. Als der Mann sich aufrichtete, zog er das Schwert aus der Leiche und hielt es in einer einzigen Bewegung Alex an die Kehle. Ein breites und irre wirkendes Grinsen zierte das Gesicht des Fremden und die kleinen Narben auf der rechten Wange und die fehlenden Augenbrauen unterstrichen sein Grinsen auf eine unangenehme Weise. Alex passte überhaupt nicht, dass sie jetzt auch noch an einen Spinner gerieten.
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