Alex beeilte sich nach Haus zu kommen, denn es war Freitag und er wollte so schnell wie möglich ins Wochenende. Ihm machte die Schule jetzt schon keinen Spaß mehr, obwohl er erst in der zweiten Klasse war und alle anderen aus seiner Klasse die Schule noch toll fanden. Die Hälfte des Unterrichts saß er nur rum und wartete, bis es endlich klingelte. Aber nun mochte er nicht mehr an den dummen Unterricht denken, sondern dachte an den Ausflug nach Kanada, den sie am Wochenende vorhatten. Sie wollten an einen See fahren, welcher das war, hatte er schon wieder vergessen, und campten dort bis Sonntagnachmittag. Nur er, seine Mutter und sein Vater. Ohne seine lästige kleine Schwester, die immer nur heulte oder an seinen Haaren zog. Oder in die Windel machte und die ganze Wohnung mit ihrem Geruch verpestete… Er schüttelte den Kopf, um die Vorstellung von dem Geruch aus seinem Kopf zu kriegen. Seine Schwester war zwar manchmal niedlich, aber hauptsächlich war sie nervig. Daher freute er sich umso mehr, dass er dieses Wochenende mit seinen Eltern allein verbringen konnte. Als das Haus seiner Familie bereits in Sichtweite war, lief er das letzte Stück, sprang über den Zaun, kletterte aus dem Busch, in dem er landete und lief über den Rasen zur Haustür.
„Mom, Dad!“, brüllte er durch das Haus und als niemand antwortete, lauschte er. Er hörte den Fernseher und lief in das Wohnzimmer, wo seine Eltern auf der Couch saßen. „Mom, Dad! Ich will los! War Onkel David schon da?“ Wieder bekam er keine Antwort und er schaute zum Fernseher. Dort liefen die Nachrichten und da es kein Trickfilm war, schaute er seine Eltern wieder an, die besorgt drein schauten. „Ich will looooos! Ich hab extra gestern schon meine Sachen gepackt!“, nörgelte er und endlich bekam er eine Reaktion seines Vaters.
„Pscht, Sascha. Lass uns das kurz sehen.“ Bockig setzte er sich auf den Fußboden vor der Couch und schaute wieder zum Fernsehen. Seit wann sind Nachrichten so interessant…?, fragte er sich.
„Die US Army und die US Navy sind bereits vor Ort und versuchen, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.“, sagte die Sprecherin. „Die gesamte Stadt ist in Aufruhr, bereits über sechshunderttausend Tote wurden gezählt und die Bewohner der Regionen, die noch nicht befallen sind, werden aus der Stadt evakuiert. Alle Menschen, die in einem Umkreis von fünfzig Kilometer wohnen, sollen ebenfalls unverzüglich ihre Wohnungen verlassen und Schutz in anderen Gegenden suchen, bis die Krise eingedämmt werden kann.“
„Ist schon bekannt, was genau passiert ist?“, fragte ein männlicher Nachrichten-Sprecher.
„Nein, bisher nicht. Man geht von einem biologischen Terrorangriff aus, da die Menschen…“ Langweilig., dachte Alex und stand wieder auf. Er verstand kein Wort von dem, was die Frau im Fernsehen von sich gab. Er ging in sein Zimmer im ersten Obergeschoss und holte seinen Rucksack herunter, den er schon gepackt hatte. Danach schaute er sich nach seiner Schwester um, die im Laufgitter saß und mit Bauklötzern spielte.
„Na, stinkende Schwester?“, begrüßte er sie und streckte ihr den Zeigefinger hin. Sie lachte und griff nach ihm. „Urgh… Warum ist deine Hand so nass? Hast du dich schon wieder angesabbert?“ Angewidert zog er seinen Finger aus ihrer Hand und wischte ihn sich an seinen Klamotten trocken. „Ist ja ekelhaft…“ Er wollte grade in das Laufgitter klettern und mit seiner Schwester einen Turm aus Holzklötzen bauen, als er ein Auto in der Auffahrt hörte. „Hast du das gehört? Das war bestimmt Onkel David.“, sagte er zu der Zweijährigen und stürmte die Treppen runter. „Onkel David!“, rief er, stürzte die Stufen zur Veranda herunter und umklammerte die Beine seines Onkels.
„Na, Großer?“, begrüßte er ihn und hob ihn auf den Arm. „Oh Gott, du wirst langsam etwas zu schwer.“
„Stimmt gar nicht! Rachel ist bestimmt viel schwerer als ich und die kannst du auch noch heben. Dabei ist sie so dick!“ Sein Onkel lachte und ging mit Alex in das Haus. „Mom und Dad sind in der Stube und gucken Nachrichten.“ David setzte seinen Neffen wieder ab und ging dann in die Wohnstube.
„Ihr seht noch nicht wirklich abreisebereit aus.“, stellte sein Onkel fest und Alex' Eltern schauten zu ihm
„David, hast du das mitbekommen?“, fragte seine Mutter und deutete auf den Fernseher.
„Ja, hab ich. Aber es ist an der Ostküste. Was soll uns hier schon passieren.“, konterte sein Onkel dann. „Das ist meilenweit entfernt und die Army bekommt das schon in den Griff.“
„Hm…“, machte Alex' Vater nur.
„Gönnt euch euer Wochenende und wenn ihr wieder hier seid, werdet ihr sehen, dass alles in Ordnung ist und auch in Washington wird bis dahin alles halbwegs normal sein.“
„Ich weiß nicht… Was, wenn die Terroristen hier in der Nähe zuschlagen? Du wärst dann allein mit Rachel hier.“
„Ich pass schon auf die Prinzessin auf. Abgesehen davon… Portland steht sicherlich nicht unbedingt auf der Abschussliste der Terroristen. Es gibt viel lohnendere Ziele im Süden oder im Osten.“
„Also gut…“, sagte Alex' Vater schließlich und stand dann vom Sofa auf. „Ruf an, wenn irgendwas ist. Wir kommen dann sofort wieder her.“ David nickte lächelnd und Alex wusste nicht warum, aber irgendwie sah es anders aus als sonst. Aber er kümmerte sich nicht weiter darum und setzte sich seinen Rucksack auf, der auf dem Flur lag und nur darauf wartete, dass Alex ihn endlich benutzte. Danach folgte er seinen Eltern, winkte David zu und stieg ins Auto ein. Kurz darauf waren sie schon unterwegs und im Radio liefen nur Nachrichten auf allen Sendern.
„Können wir keine CD oder so hören?“, fragte Alex und lehnte sich etwas vor.
„Später.“, antwortete sein Vater, der am Steuer saß und Alex lehnte sich bockig wieder am Rücksitz an. Er hasste Nachrichten. Die waren so stink-langweilig. Wenn ich erwachsen bin, werde ich keine Nachrichten gucken. Ich guck dann nur SpongeBob oder Transformers.
Die kleine Familie war grade erst eine halbe Stunde unterwegs, als Alex bereits eingeschlafen war. Erst, als sie wieder am Campingplatz ankamen, wurde er von seiner Mutter geweckt. Voller Euphorie schaute er sich um, als sein Vater das Auto unter einigen Kiefern parkte, dann sprang er aus dem Wagen, holte seine Sachen aus dem Kofferraum und rannte runter an den See. Er wollte grade seine Schuhe ausziehen und herum planschen, als sein Vater ihn zurück rief.
„Sascha! Erst wird das Zelt aufgebaut!“ Frustriert ging er zurück, legte seinen Rucksack in der Nähe hin und half seinen Eltern, das Zelt aufzubauen. Es dauerte nicht all zu lang, bis das Zelt stand und schließlich wurde ihm erlaubt, in den See zu springen. Seine Eltern folgten kurz darauf, um ihren Sohn besser im Auge behalten zu können. Bis zum Abend hin blieben sie im Wasser und die Eltern vergaßen recht schnell, was sie im Fernsehen und im Radio erfahren hatten. Auch, als sie am Abend ein Lagerfeuer machten und Marshmallows und Würstchen grillten, genossen sie lieber die Natur, als sich über Washington D.C. Sorgen zu machen. Immerhin hatte David recht. Die Stadt war sehr weit weg und wahrscheinlich waren sie hier sicher. Und in Kanada wohl noch eher als in Portland.
Das Wochenende ging schneller rum, als Alex gedacht hatte. Am Samstag waren sie den ganzen Tag unterwegs gewesen und Alex lernte etwas, wie man einige Tage in der Natur überleben konnte. Allerdings vergaß er dies Wissen schnell wieder, sobald sie auf dem Heimweg waren. Den relativ kurzen Sonntag angelten die drei, danach packten sie ihre Sachen zusammen und fuhren wieder Richtung Heimat.
Am späten Nachmittag kamen sie dann wieder am Haus an und wurden von David und Rachel begrüßt. Alex verschwand relativ früh im Bett, weil er so viel frische Luft und Bewegung nicht gewohnt war. Nach viel zu wenigen Stunden wurde er dann wach. Draußen war irgendein Tumult, er hörte Menschen schreien und etwas, das wie laute Knallfrösche klang. Was ist das für ein Krach…?, fragte er sich verschlafen, stand auf und schaute aus dem Fenster, doch er konnte nichts sehen. Alles war stockfinster draußen. Plötzlich riss jemand seine Zimmertür auf und er fuhr erschrocken herum.
„Sascha, pack schnell ein paar Sachen ein!“, rief sein Vater, drückte ihm seinen Rucksack in die Hand und Alex gehorchte verwirrt.
„Was ist denn los…?“, fragte er, doch sein Vater antwortete nicht. Als Alex seinen Rucksack zumachte, drückte sein Vater ihm sein Lieblingsplüschtier in die Hand und zog ihn eilig an einem Arm mit aus dem Zimmer und die Treppen runter. Seine Mutter stand dort schon mit gepackten Sachen, hatte Rachel auf dem Arm, die Rotz und Wasser heulte und ging voraus, als Alex und sein Vater grade runter kamen. „Dad?“, versuchte Alex noch mal zu fragen.
„Ich erklär dir alles später. Wir müssen erstmal hier weg.“ Alex stieg ins Auto, schnallte sich an und schaute aus dem Fenster, während sein Vater vom Grundstück fuhr. Deren Haus wurde immer kleiner und verschwand schließlich hinter einer Kurve. Draußen wurde es still und Alex hatte das Gefühl, als ob die Stille ihn zerdrückte. Es war unheimlich und die Tatsache, dass seine Eltern so panisch aussahen, machte es nicht besser. Er schaute zu seiner Schwester rüber, die neben ihm in einer merkwürdigen Schale saß. Sie sah aus, als wollte sie sofort wieder weinen, verkniff es sich aber aus irgendeinem Grund. Liebevoll nahm er ihre winzige Hand und tätschelte diese, in der Hoffnung, dass es sowohl sie als auch ihn selbst beruhigte.
„Alex, kannst du dich erinnern, was Freitag in den Medien lief?“, fragte seine Mutter und er erschrak, als er das Zittern in ihrer Stimme bemerkte. Er versuchte sich zu erinnern, aber es fiel ihm beim besten Willen nicht ein, also schüttelte er schweigend den Kopf. Seine Mutter schaute zu seinem Vater.
„Was ist denn los…?“, wollte er wissen, als seine Eltern schwiegen.
„Wir müssen für eine Weile zu Oma aufs Land.“, antwortete sein Vater dann.
„Aber… wir waren doch erst vor zwei Wochen da.“
„Ja, ich weiß, aber…“ Sein Vater schwieg für eine Weile, die Alex wie Stunden vorkam. „Die Stadt wird angegriffen und wir sind auf dem Land sicherer als zu Haus. Wir werden sicher schnell wieder nach Haus können.“ Er schwieg kurz und fluchte dann so leise, dass Alex es nicht mitbekam. Sie hielten am Ende eines unglaublich langen Staus.
„Hätten wir uns auch denken können…“, murmelte seine Mutter und Alex schaute an ihr vorbei aus der Windschutzscheibe. Die Autos vor ihnen hupten und einige Familien nahmen ihr Gepäck und gingen zu Fuß weiter. „Sollen wir auch…?“, wollte sie dann fragen, doch sein Vater schüttelte den Kopf.
„Zu Oma ist es zu Fuß zu weit.“ Er drehte sich zu seinen beiden Kindern um. „Versuch etwas zu schlafen, Alex. Das wird sicher 'ne Weile dauern.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er war zwar furchtbar ängstlich und aufgeregt, aber er war viel zu müde, um weiter wach zu bleiben. Letzten Endes schlief er aber nicht richtig, sondern döste nur vor sich hin. Das ständige fahren, stehen, fahren, stehen trug nicht grade dazu bei, dass er schlafen konnte. Also schaute er nach einer ganzen Weile wieder aus den Fenstern und stellte fest, dass Leute an der Straße einige Stände aufgebaut hatten. Seine Familie war inzwischen recht dicht an den Ständen dran und er fragte sich, was es dort wohl gab. Einige Meter, bevor sie ankamen, kam ein Soldat an das Fenster seiner Mutter und sie ließ die Scheibe herunter. Der Soldat schaute in das Innere des Autos, nahm sein Funkgerät und meldete sich bei Jemandem.
„Zwei Erwachsene, ein Kleinkind von etwa zwei oder drei Jahren und ein Kind von etwa acht Jahren.“, sprach er in das Gerät rein. Dann verschwand der Mann für einige Minuten und kam eilig mit einem Karton wieder. „Tragen Sie diese. Passen Sie auf, dass Sie nicht gebissen werden. Trauen Sie keinen anderen Menschen außer ihrer Familie. Wenn jemand sich anders benimmt als sonst, wahren Sie Abstand.“ Der Soldat drückte Alex' Eltern Gasmasken in die Hand. „Nach dem Kontrollpunkt fahren Sie am besten nach Osten. Im Süden gab es einen schweren Unfall und die ganze Straße ist blockiert.“
„Verstanden. Danke.“, antwortete sein Vater, der Soldat lächelte nur, es wirkte jedoch aufgesetzt. Dann lief der Mann zum nächsten Auto. Kurz darauf fuhren sie wenige Meter weiter und seine Mutter drehte sich zu ihren Kindern um.
„Hier, setz die auf, Alex.“, sagte sie dann und gab ihm eine Gasmaske. Er beäugte sie kurz und schaute seiner Mutter dabei zu, wie sie Rachel ebenfalls eine aufsetzte. Das kleine Mädchen begann zu schreien, weil das Ding ungemütlich war, aber es musste wohl sein. Also setzte Alex seine ebenfalls auf. Auch seine Eltern hatten Gasmasken bekommen und setzten sie auf. Alex fand das Ding irgendwie cool, auch wenn es ungemütlich war. Er stellte sich vor, dass er ein Taucher war und mit Haien um die Wette schwamm. Die Haie waren die anderen Autos und als er an einigen Autos zu seiner rechten vorbei schaute, sah er einige Menschen herbei laufen.
„Mom, warum haben die das so eilig?“, fragte er dann, tippte ihr auf die Schulter und deutete zu den Menschen, die erschreckend schnell näher kamen. Seine Mutter schaute hin und sog die Luft scharf ein.
„Schatz…?“, sagte sie dann, ohne ihn anzusehen. „Schatz!“ Sein Vater schaute nun auch hin, als sie seinen Arm ergriff und er fluchte mehrere Male.
„Sascha, verriegel die Türen und verkriech dich mit Rachel auf den Boden!“, rief sein Vater und erschrocken tat Alex, was ihm gesagt wurde. Grade, als die Familie sich so klein wie möglich machte, kamen die Menschen bei den Autos an und Alex hörte, wie eine Menge Metall und Glas zu Bruch ging.
„Was machen die…?“, wimmerte Alex und musste sich die Tränen verkneifen. Er hatte unglaubliche Angst und er stieß einen kurzen spitzen Schrei aus, als die Scheibe über ihm zerbrach und kleine Splitter auf sich und seine kleine Schwester hinab regneten.
„Sascha!“, rief sein Vater, riss die Fahrertür auf und lief auf die Straße.
„Dad!“, rief Alex ihm zu, doch er lockte die Menschen von den Autos weg und lief auf das Feld zu ihrer Linken.
„Alex… nimm Rachel und komm schnell raus da…“, wimmerte seine Mutter und mit rasendem Herzen öffnete er die Tür, nahm seine Schwester auf den Arm und kletterte aus dem Auto. Sie weinte wieder wie verrückt und Alex versuchte sie zu beruhigen, als seine Mutter ihm das Kleinkind abnahm, mit der anderen Hand seine Hand nahm und in entgegengesetzte Richtung lief.
Irgendwann, als die Autos nur noch winzige Punkte am Horizont waren, sackte seine Mutter auf die Knie und brach in Tränen aus. Sie zog ihren Sohn zu sich heran und erdrückte ihn beinah.
„Mom…?“, fragte er vorsichtig und streichelte ihren Rücken. Er schaute über ihre Schulter zu dem Ort, wo er seinen Vater vermutete, konnte ihn aber nicht sehen. Eine ganze Weile blieb sie dort sitzen, stand auf und ging dann weiter. „Mom, was ist mit Daddy…?“, wollte Alex dann wissen und drehte sich immer wieder um.
„Wir treffen uns bei Oma…“, antwortete sie mit zitternder Stimme und Alex wusste nicht genau, ob er das glauben konnte.
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