Bis zur Dämmerung liefen sie immer grade aus, Alex war hundemüde und ihm taten die Füße vom Laufen weh. Am liebsten hätte er sich einfach ins Gras gelegt und dort geschlafen.
„Da vorn ist eine Stadt. Vielleicht kannst du dich dort ausruhen.“, sagte seine Mutter, nachdem Alex immer häufiger rum quängelte. Er hörte sich schon genauso an wie Rachel, wenn sie in die Windeln gemacht hatte. Die Stadt war erschreckend still, Autos standen kreuz und quer herum, Haustüren standen sperrangelweit offen und Fenster waren eingeschlagen. Seine Mutter suchte ein Haus aus, spähte vorsichtig hinein und rief ein paar Mal, doch nirgends war etwas zu hören. Die drei gingen die Treppe hoch und legten sich alle in ein Bett, wo sie schließlich einschliefen. Alex war der Erste, der wieder wach wurde und schaute sich verwirrt um. Er hatte sich erst gewundert, warum sein Zimmer so komisch aussah, doch dann fiel ihm wieder ein, was passiert war.
„Mom…?“, versuchte er seine Mutter zu wecken, doch sie zog nur die Augenbrauen zusammen, murmelte etwas Unverständliches und schlief weiter. Alex beschloss, sich ein wenig in dem fremden Haus umzusehen. Es war ein schönes und großes Haus, auch wenn es nicht so schön war wie das, in dem er wohnte. Als er in den Garten ging, nahm er die Gasmaske ab, die seit einer ganzen Weile schon mehr als ungemütlich war und ging dann an den Zaun, der das Grundstück abgrenzte. Alex schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Autos konnte er nicht mehr sehen, doch er sah einen einzigen Menschen, der auf die Stadt zusteuerte. Alex duckte sich, weil er befürchtete, dass es einer von diesen Verrückten war, die die Autos angegriffen hatten. Doch als der Mensch näher kam, sah Alex, dass es sein Vater war. Mit Leichtigkeit sprang er über den Zaun, lief zu ihm und fiel ihm um den Hals.
„Sascha, geht es dir gut? Wo sind Mom und Rachel…?“
„Die schlafen in dem Haus da. Mom hat die ganze Zeit geweint, aber ich glaub, sonst geht es ihr gut. Und mir und Rachel auch.“ Er deutete auf das Haus, in dem sie geschlafen hatten.
„Gut…“, seufzte er dann erleichtert und Alex bemerkte ein paar blutige Stellen an seiner Kleidung.
„Was ist das?“, fragte Alex und deutete mit dem Finger darauf.
„Nichts. Hab mich nur etwas an den kaputten Autos verletzt.“, antwortete sein Vater dann und ging mit seinem Sohn zu dem Haus, wo der Rest der kleinen Familie schlief. Allerdings war Alex' Mutter schon wach und fiel ihrem Ehemann weinend um den Hals, als sie ihn sah. Erst, als sie die blutigen Stellen sah, erschrak sie so sehr, dass sie nach Alex griff und ihn von seinem Vater weg zog.
„Du… wurdest gebissen…?“, fragte sie und als Alex verwirrt zu ihr hoch schaute, hielt sie sich die Hand vor den Mund und brach wieder in Tränen aus, als sein Vater schwieg.
„Gebissen?“, fragte Alex und schaute seine Eltern verdutzt an. „Du hast doch gesagt, du hast dich an den Autos verletzt.“ Sein Vater schwieg noch immer und schaute zu seiner Frau runter.
„Schatz, ich will, dass du die Kinder nimmst und so weit wie möglich von hier verschwindest. Lauft zu deiner Mutter und macht so wenig Pausen wie möglich. Je schneller ihr voran kommt, desto schneller seid ihr aus dem Gefahrenbereich. Verstanden?“
„Ich lass dich nicht hier zurück…“, wimmerte Alex' Mutter und vergrub das Gesicht in den Händen. „Es gibt bestimmt schon ein Heilmittel…“
„Wenn es ein Heilmittel gibt, kommt zurück, wenn sich die Lage beruhigt. Ich werde hier warten.“
„Nein…“, schluchzte sie und schüttelte ständig den Kopf.
„Sascha, hör mir zu.“, sagte sein Vater dann und kniete sich vor seinen Sohn. „Du bist die nächste Zeit der Mann im Haus und ich will, dass du auf deine Mutter und deine Schwester aufpasst. Weißt du noch, was ich dir dies Wochenende alles beigebracht hab?“ In Alex' Augen sammelten sich Tränen und er schüttelte den Kopf, woraufhin sein Vater lächelte. „Es wird dir bestimmt wieder einfallen, wenn es die Situation erfordert.“ Er wuschelte seinem Sohn durch die Haare und erhob sich dann wieder. „Ihr solltet jetzt gehen.“
„Nein… nein…“, wimmerte Alex' Mutter und brach zusammen.
„Schatz… es wird alles wieder gut. Das versprech ich dir. Jetzt nimm die Kleine und geh.“ Er drückte seiner Frau einen Kuss auf die Lippen, umarmte sie und seinen Sohn und scheuchte seine Familie dann aus dem Haus. Alex drehte sich noch mal um, als sie auf der Straße waren und Richtung Osten gingen, sah seinen Vater aber nirgends. Seine Mutter schluchzte noch lange und erst, als sie die Stadt nicht mehr sehen konnten, beruhigte sie sich etwas.
„Warum ist Dad da geblieben?“, wollte Alex dann wissen und drehte sich erneut um, in der Hoffnung, dass sein Vater hinterher kommen würde.
„Er ist krank und will nicht, dass er uns ansteckt…“, antwortete sie leise.
„Oh…“, machte Alex nur. „Hab gar nicht gemerkt, dass er krank ist.“ Seine Mutter lächelte gezwungen und streichelte sein dunkles Haar.
Nach etwa zwei Stunden erreichten sie eine Kleinstadt und sie suchten zusammen nach etwas Essbaren. Die Geschäfte wurden größtenteils geplündert, aber dort ließ sich zum Glück noch genug Nahrung finden.
„Alex, siehst du die Rucksäcke da oben?“, fragte seine Mutter und deutete auf eine Wand auf der anderen Seite der Halle. Ganz oben hingen noch einige Rucksäcke und als er sie sah, nickte er. „Wir könnten welche gebrauchen, um Essen mitnehmen zu können. Denkst du, du kannst dort hoch klettern?“
„Jopp.“, antwortete der Junge und lief zur Wand. Die Haken in der Wand sahen nicht sehr zuverlässig aus, aber als er sich umschaute, fand er keine andere Möglichkeit dort hoch zu klettern. Also wagte er es und zum Glück hielten die Haken, an denen zuvor andere Sachen gehangen haben mussten. Als er die Rucksäcke erreichte, warf er zwei herunter und sprang dann zurück auf den Boden. Einen gab er seiner Mutter.
„Danke schön. Hast du dich verletzt?“
„Nee.“, antwortete er dann, nahm sich einen Rucksack und folgte seiner Mutter.
„Nimm mit, was rein passt. Und nicht nur Süßigkeiten, hörst du?“ Mäh…, dachte er, als er sich grade genau danach auf die Suche machen wollte. Schließlich ging er durch die Gänge und sammelte alles ein, was seine Mutter ihm sonst auf den Tisch gestellt hatte. Brot, Salami-Würstchen, diverse Konserven, von denen nicht mehr all zu viele in den Regalen standen, ein paar kleine Flaschen Wasser. Er wollte auch Kartoffeln mitnehmen, aber die wenigen Säcke, die dort noch lagen, bekam er nicht getragen.
„Mom, hier liegen Kartoffeln! Aber ich krieg die nicht getragen!“, rief er seiner Mutter zu.
„Mach den Sack kaputt und hol ein paar raus!“, antwortete sie und Alex versuchte den Sack aufzureißen, was ihm allerdings nicht gelang. Er suchte die Gänge nach etwas ab, womit er den Sack zerreißen konnte und fand schließlich in der Haushaltsabteilung einige Scheren. Er nahm sich eine, lief zurück zu den Kartoffeln, schnitt ein Loch in den Sack und warf einige Knollen in seinen Rucksack. Als er ihn sich aufsetzen wollte, stöhnte er. Viel zu schwer… Er schaute nach, ob er nicht etwas hier lassen konnte, konnte sich aber nicht entscheiden und zog den Rucksack hinter sich her. Die Schere steckte er in die Hosentasche und als er zurück zu seiner Mutter gehen wollte, entdeckte er die Regale mit den Süßigkeiten. Zögernd stopfte er sich eine Tüte Chips, zwei Tüten Gummitierchen und ein paar Tafeln Schokolade in den Rucksack. Dann ging er weiter.
„Hab alles, Mom.“, sagte er dann, als er bei ihr ankam. Sie setzte sich grade den Rucksack auf, nahm Rachel auf den Arm und schaute sich um.
„Komm mal mit.“, sagte sie dann und lief aus der Halle zu den Einkaufskörben, die vor dem Laden standen. Sie setzte Rachel rein, schob eine Münze aus ihrer Hosentasche in den Schlitz, um den Korb von den Ketten zu lösen und legte Alex' Rucksack ebenfalls rein. „Willst du laufen oder soll ich dich auch fahren?“
„Ich laufe. Schließlich bin ich jetzt der Mann im Haus.“, sagte er stolz und ging auf die Straße. Seine Mutter folgte ihm und sie gingen weiter durch die Stadt. Es dauerte nicht lang, bis sie an diverse andere Geschäfte kamen und sie plünderten diese nach wärmerer Kleidung für die Nacht und nahmen auch ein paar Decken und Kissen mit. „Dürfen wir das eigentlich alles mitnehmen…?“, fragte er skeptisch, als er den vollen Einkaufswagen sah.
„Wir leihen uns die Sachen nur.“, sagte seine Mutter.
„Ok.“, antwortete Alex, blieb aber skeptisch. Wie sollten sie die Nahrung wieder bringen, wenn sie sie längst aufgegessen hatten?
„Bleib hier und pass auf Rachel und die Sachen auf.“, sagte seine Mutter nach einer Weile und lief über die Straße zu einem anderen Geschäft. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie mit leeren Händen wieder raus kam. Schweigend gingen sie dann weiter und kurz, bevor sie am Ausgang der Stadt ankamen, sahen sie einige Menschen.
„He!“, riefen sie, doch Alex' Mutter schwieg erst. Die Menschen kamen winkend näher.
„Bleib hier, Alex.“, sagte sie auf einmal und ging auf die anderen Menschen zu. „Kommt nicht näher!“, rief sie dann rüber und blieb stehen. Auch die anderen Menschen blieben stehen und die, die gewunken hatten, nahmen die Hände runter. Plötzlich zog sie eine Pistole aus dem Hosenbund und richtete diese auf die anderen. Alex schaute erschrocken zu. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass seine Mutter eine Waffe dabei hatte. Und warum zielte sie damit auf andere Menschen…?
„Mom…?“, rief er eher leise zu seiner Mutter, die ihn aber ignorierte.
„Wenn ihr näher kommt, erschieße ich euch!“, rief sie dann den anderen zu. Einen Moment herrschte Stille, dann preschte das halbe Dutzend Fremder auf sie los. Sie schoss erst, als sie schon zu dicht waren und Alex zuckte heftig zusammen, als der Knall ertönte und der erste Mann zu Boden sackte. Die anderen Leute stürzten sich auf seine Mutter, rissen sie ebenfalls zu Boden und noch ein paar weitere Schüsse erschallten. Panisch zitternd und lautlos heulend stand er hinter dem Einkaufswagen und wusste nicht, was er machen sollte. Seine Mutter kämpfte dort und er versteckte sich sogar hinter seiner zweijährigen Schwester. Ich bin doch der Mann im Haus…!, ermahnte er sich und dann fiel ihm ein, dass er noch die Schere in der Hosentasche hatte. Er zog sie heraus, lief zu seiner Mutter und rammte die Klingen in den Rücken eines Mannes, der über seiner Mutter kniete. Brüllend fuhr der Mann herum, dann ertönte wieder ein Schuss, der Alex beinah das Trommelfell zerriss und der Mann fiel leblos um. Dem nächsten Mann, der sich über seine Mutter hermachen wollte, trat er so kräftig zwischen die Beine, wie er konnte und zog dem Fremden an den Haaren, bis sie ihn ebenfalls erschoss. Dies war der letzte Angreifer gewesen und als seine Mutter die Pistole sinken ließ, stürzte er zu ihr und umarmte sie weinend.
„Hast du gut gemacht, mein Liebling…“, sagte sie beruhigend und streichelte sein Haar. Dann stand sie auf und Alex sah, dass sie überall blutete. Arme und Beine wiesen Gebissabdrücke auf und zum Teil waren die Wunden erschreckend groß und tief. Seine Mutter ging zu Rachel und dem Einkaufswagen und beruhigte ihre Tochter, die durch die Schüsse wie am Spieß schrie. Alex folgte ihr zaghaft. Er war immer noch erschrocken über das, was grade passiert war. Er schaute sich noch einmal zu den Angreifern um, die noch immer regungslos dort auf der Straße lagen. Das einzige Mal, als er etwas Totes gesehen hatte, war eine überfahrene Katze auf der Straße und ein Vogel, der gegen eine Scheibe geflogen war. Aber die beiden Tiere waren nichts im Vergleich zu dem, was er nun sah. Tote Menschen waren ein ganz anderes Kaliber als tote Tiere. Als er seine Augen endlich abwenden konnte, kniete seine Mutter sich zu ihm herunter.
„Geht's dir gut…?“, fragte er, als er erneut die Bisse sah.
„Liebling, hör mir zu. Ich werde zu Dad zurück gehen und ich möchte, dass du Rachel nimmst und weiter gehst.“ Sie kramte eine Landkarte von Oregon aus ihrem Rucksack und schlug diese auf der Straße auf. „Hier wohnt Oma.“ Sie kratzte mit dem Fingernagel ein Kreuz auf den Ort, wo ihre Mutter wohnte. „Und hier sind wir. Dazwischen liegen nicht viele Orte und auf offener Straße solltet ihr sicher sein.“
„Ich will nicht ohne dich gehen…“, begann Alex zu jammern.
„Doch, du musst. Ich bin jetzt auch krank und ich werde mit Dad warten, bis es uns besser geht und dann kommen wir nach. Aber… ihr müsst voraus gehen. Bei Oma ist es sicher und dort kann euch die Krankheit bestimmt nichts anhaben. Wenn ich bei euch bleibe, werdet ihr bald auch krank sein und das könnte ich mir niemals verzeihen.“ Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, als dicke Tränen seine Wangen herunter kullerten. „Du wirst das schon schaffen.“ Jetzt weinte auch sie und nahm ihren Sohn in den Arm. „Wir werden uns bald wieder sehen…“, sagte sie schluchzend, doch Alex verstand nicht, warum sie so weinte, wenn der Abschied nicht auf Dauer sein würde. Sie stand kurze Zeit später auf, nahm die Pistole und reichte sie Alex, der aber nicht einen Finger hob. „Ich bin nicht besonders scharf darauf, dir eine Waffe geben zu müssen, aber… ich weiß nicht, ob ihr noch mehr Menschen trefft. Falls ihr angegriffen werdet, schieß sie ab.“, sagte sie dann und zaghaft nahm er die Pistole. Seine Mutter erklärte ihm kurz, wie er damit umzugehen hatte und steckte dann ein paar Magazine in seinen Rucksack. „Denk dran, Alex, das ist kein Spielzeug. Halte sie immer von dir und deiner Schwester weg. Es gelten dieselben Regeln wie mit einem Messer, klar? Immer weg vom eigenen Körper.“ Er nickte zaghaft und wusste nicht so recht, wo er mit diesem Ding hin sollte. Seine Mutter hatte sie im Hosenbund stecken, aber er wollte sie am liebsten gar nicht bei sich am Körper tragen. Er fand Waffen eigentlich immer cool und war stolz, wenn er zum Fasching als Cowboy seine eigene kleine Pistole hatte oder er im Garten mit seinem Vater mit Wasserpistolen herum tollte, aber diese Waffe, die ganz anders war als ein Spielzeug, machte ihm Angst. Zudem war sie schwer und kalt. Und vor allem wesentlich gefährlicher als eine Wasserpistole.
„Mom, warte…“, sagte er dann, nachdem sie ihn noch einmal umarmt hatte und sich von Rachel verabschiedete. Er kramte aus seinem Rucksack sein Plüschtier heraus, das inzwischen etwas verdreckt aussah. „Du passt auf Kroki auf und ich kümmer mich um Rachel. Und wenn wir uns wiedersehen, dann tauschen wir wieder, ok?“ Er drückte ihr das Krokodil in die Hand und sie nickte mit Tränen in den Augen.
„Passt gut auf euch auf…“, sagte sie dann, drückte ihren beiden Kindern jeweils einen Kuss auf und Alex schob den Einkaufswagen dann die Straße entlang, während seine Mutter in die andere Richtung ging. Erst nach einer ganzen Weile drehte er sich wieder um, doch sie war bereits nicht mehr zu sehen. Er seufzte kurz und schob Rachel und deren Sachen weiter die Straße entlang.
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