„Meinst du, wir können die beiden allein bei Tyler lassen…?“, fragte Rachel dann, doch Alex schwieg. Er hatte überlegt, ob er Carlos mitnehmen sollte, damit Rachel ein Auge auf Tyler haben konnte, aber er fühlte sich bei dem Gedanken unwohl seine Schwester bei diesen Chaoten zu lassen.
„Wird schon nichts passieren.“, antwortete er dann, war selbst aber nicht sonderlich überzeugt. Tyler war von den dreien der einzige, der kämpfen konnte, allerdings bezweifelte er, ob er dazu fit genug war. Sieben Stunden lang fahren, dann noch gegen unzählige Flitzer kämpfen und durch eine Schmerztablette umgehauen zu werden, war selbst für den Blonden etwas zu viel.
Die Stadt war wie leergefegt und sie sahen weder lebendige noch tote Mutierte. Und genauso rar waren auch Menschen. Nicht ein Knochen lag irgendwo herum und die Bevölkerung musste damals wohl geflüchtet sein, als der Ausbruch bekannt wurde. Rachel seufzte kurz und Alex schaute zu ihr runter.
„Was ist?“, wollte er dann wissen, doch sie lächelte nur schweigend. Pubertät…, dachte er dann nur und schaute nach links zu einigen Läden. Es waren überwiegend Lebensmittelmärkte, die aber mehr als ausgebombt aussahen und er würde sich wundern, wenn sie dort noch irgendwelche Lebensmittel finden würden. Als er das sah, schwand seine Hoffnung auf Medikamente, falls dieses Kaff überhaupt eine Apotheke besaß.
„Da vorn…?“, fragte Rachel leise und deutete nach vorne rechts. Alex spähte durch das spärliche Licht und stellte erleichtert fest, dass sich in dem Gebäude eine Apotheke befand. Nun hoffte er nur noch, dass sich dort wenigstens noch etwas Brauchbares finden ließ. Die Fenster waren bereits eingeschlagen und die Regale sahen auf den ersten Blick ziemlich leer aus. Fuck…, dachte Alex enttäuscht und ging durch die Reihen. Scherben knirschten unter seinen Schuhen und überall lagen leere Verpackungen rum.
„Nimm alles mit, was man so brauchen kann.“, sagte er zu seiner Schwester und sie nickte nur, dann teilten sie sich auf. Der Laden war nicht sonderlich groß, daher waren sie recht schnell durch. Alex fand nur ein paar Schmerztabletten, Pflaster in Hülle und Fülle und diverses Diätkram. „Was hast du gefunden?“, fragte er dann, als er sich eine Tüte nahm und die Tabletten sowie die Pflaster dort rein packte. Rachel hatte die Arme voll mit Mullbinden, Verbandsklebeband und diesen komischen Pflasterkissen. Außerdem hatte sie noch Nähzeug, Klammerpflaster und eine Wärmeflasche gefunden.
„Ob das reicht…?“, fragte sie dann, als sie ihre Beute ebenfalls in eine Tüte packte.
„Muss.“, antwortete Alex und schaute sich kurz um. Er sah eine Tür und fragte sich, ob sich im Lager noch mehr auftreiben ließ. „Komm mal mit.“, sagte er dann und ging zur Tür, die allerdings abgeschlossen war. Er suchte hinter der Verkaufstheke nach einem passenden Schlüssel und fand ihn in der Kassenschublade. Zu seiner Erleichterung war es sogar der richtige Schlüssel. Die Geschwister standen auf einem kleinen Flur, der drei weitere Türen beherbergte. Eine Tür führte zu Aufenthaltsräumen, eine zu Toiletten und die letzte zu einem Lagerraum. Zusammen gingen sie die einzelnen Räume durch und fanden noch unglaublich viel anderes Zeug. Rachel holte weitere Tüten von der Theke, damit sie noch mehr tragen konnten. Die beiden stopften sich so viele Beutel voll, wie sie tragen konnten und machten sich dann auf den Weg zurück zu den anderen. Carlos und Wodka kamen aus dem Truck, als sie die Geschwister kommen sahen.
„Gab's Probleme?“, fragte Wodka, doch Alex schüttelte den Kopf.
„Nee, lief alles gut.“ Er drückte den Männern ein paar Beutel in die Hände. „Ist Tyler schon wach?“
„Nee, schläft noch.“, antwortete Carlos und schaute in eine Tüte hinein. „So viel Zeug gab's da noch…? Unglaublich.“
„Ja. Vielleicht sollten wir noch mal auf dem Rückweg her kommen, um den Rest mitzunehmen, falls in San Francisco nichts sein sollte.“, schlug Alex dann vor und die anderen beiden nickten zustimmend. „Rachel, kannst du dir mal Tylers Wunde ansehen?“ Sie nickte schweigend, lief um den Truck herum zu der Seite, auf der Tyler mit verschränkten Armen und auf die Brust gesunkenem Kopf schlief. Erst versuchte sie an die Verletzung zu kommen, ohne ihn zu wecken, doch wenn er so saß kam sie nicht ran. Also weckte sie ihn.
„Sind wir schon in San Francisco…?“, wollte er verpeilt wissen und streckte sich, doch als die Wunde zwickte, ließ er es sofort bleiben.
„Noch nicht. Wir haben grad 'ne Menge Medikamente geplündert.“, antwortete Alex.
„Kannst du… Kann ich kurz…?“, meldete sich Rachel und die vier Männer schauten das Mädchen verdutzt an. Alex wunderte sich kurz, warum sie auf einmal so nervös war. Normalerweise hatte sie Erfahrung damit, schwerere Wunden zu verarzten. Tyler zögerte eine Weile, wandte sich dann mit der verletzten Seite zu Rachel und schob den Pulli hoch. Die Mullbinden waren bereits wieder durchgeblutet und als sie den Verband abmachte, presste sie die Lippen zusammen. Sie kramte die Klammerpflaster aus den Beuteln, riss die Packung auf und klebte die Wunde damit zu. Zum Schluss klebte sie ein Wundkissen drauf.
„Danke.“, murrte Tyler nur, zog den Pulli wieder runter, legte eine Hand auf die Wunde und lehnte sich wieder zurück. Rachel hatte nur kurz gelächelte und ging dann zurück zu ihrem Bruder, der sie noch immer verwundert anstarrte. Kurz darauf verteilten sie sich wieder zurück in die Fahrzeuge und fuhren weiter Richtung San Francisco.
Erst am späten Abend erreichten sie die große Stadt und hielten wenige Kilometer außerhalb. Es war bereits zu spät, um noch dichter ran zu fahren. Alex stand auf der Straße und ihm war mulmig, als er die zerfallenen, pechschwarzen Gebäude sah. Nirgendswo brannte Licht und er konnte sich vorstellen, dass was an den Geschichten dran war.
„Alex, Tyler will den Plan erklären und dann sollten wir etwas schlafen.“, meldete sich Rachel plötzlich an seiner Seite und zusammen gingen sie zu den anderen drei, die auf der Ladefläche des Trucks saßen.
„Also…“, begann Tyler und kratzte sich am Kopf. „Ich übernehm die erste Wache. Wer will danach?“ Alex hob die Hand, als die anderen schwiegen. Offenbar hatte keiner der anderen Lust auf Wache, doch irgendeiner musste es ja machen. Da er kein Vertrauen in Wodkas und Carlos Schießkünste hatte und er Rachel ausschlafen lassen wollte, blieb nur noch er übrig, weshalb er sich meldete. „Alles klar… Sobald die Sonne aufgeht musst du uns dann wecken. Je eher wir rein gehen, desto eher können wir wieder abhauen. Den morgigen Tag hab ich nur für die Erkundung eingeplant, weshalb nur einer oder zwei von uns rein gehen werden. Wir müssen erst die Lage checken, bevor wir lautstark mit unseren Fahrzeugen durchheizen und zu plündern anfangen. Carlos und Wodka, ihr bleibt hier und passt dann auf die Fahrzeuge auf.“ Die beiden Männer nickten und schienen etwas erleichtert zu sein. „Rachel, du bleibst am besten auch hier. Mit der Schrotflinte bist du bei einem direkten Angriff besser zu gebrauchen als wenn wir schleichen müssen.“ Auch sie nickte und schaute dann zu Alex.
„Und lass mich raten: Du gehst in die Stadt, weil du davon ausgehst, dass ich Rachel nicht allein hier lasse.“, unterbrach Alex ihn sofort, als er den Mund aufmachte.
„Falsch. Ich bitte DICH darum rein zu gehen.“ Verdutzt schaute er den Blonden an. „Diese beschissene Wunde zeckt wie Sau und damit wäre ich alleine schneller tot, als mir lieb wäre. Abgesehen davon halte ich einen Fernkämpfer für sinnvoller als einen Nahkämpfer. Die Entscheidung, ob ich mitkommen oder hierbleiben soll, liegt bei dir.“ Er nickte zu Rachel und Alex zog die Augenbrauen zusammen.
„Puuuh…“, machte Alex dann und wuschelte sich durch sein dunkelbraunes Haar. „Das entscheid ich wohl besser morgen früh.“ Sein Magen fühlte sich flau an, als er daran dachte ohne seine Schwester in diese verdammte Stadt zu gehen. Und er wusste nicht, was schlimmer war: Sie hier zu lassen, bei diesen merkwürdigen Typen oder sie gegen Tylers Willen mitzunehmen und sie einer noch schlimmeren Gefahr auszusetzen. Über Tyler grübelte er genauso. Einerseits würde er ihn lieber bei Rachel lassen, damit wenigstens einer ordentlich auf sie aufpassen konnte, andererseits traute er ihm genauso wenig wie Wodka, Carlos und den Mutierten.
„Gut…“, meinte dann Tyler wieder und erhob sich. „Dann solltet ihr schlafen, bevor die Nacht wieder vorbei ist.“ Er kletterte auf das Dach des Trucks, zog seine Pistole aus seinem Hosenbund und schaute zur Stadt. Alex und seine Schwester machten es sich im Jeep gemütlich, während Wodka und Carlos auf der Ladefläche schliefen. Alex brauchte lange, um endlich einzuschlafen, weil er noch über den morgigen Tag grübelte. Er hatte wirklich absolut keine Idee, was er mit Tyler anfangen sollte… Mit kreisenden Gedanken schlief er schließlich ein und als er wieder wach wurde, war es noch immer dunkel. Er schaute auf die Armbanduhr, die vom Mond grade so sehr erhellt wurde, dass er die Uhrzeit ablesen konnte. Es war kurz nach vier Uhr morgens und er wunderte sich, dass Tyler ihn noch nicht geweckt hatte. Gähnend streckte er sich, schaute zu Rachel, die noch tief und fest schlief, öffnete leise die Tür und ging dann zum Truck. Tyler saß noch immer auf dem Dach und schaute zu Alex, als dieser zu ihm hinauf kletterte.
„Was ist los? Noch nicht müde?“, fragte Alex und setzte sich neben ihn.
„Sollte ich?“
„Es ist nach vier. Du hockst hier schon über fünf Stunden.“, klärte er ihn dann auf und Tyler zog eine Augenbraue hoch. „Du solltest langsam mal ein Auge zumachen, bevor du morgen im Stehen einpennst. So können weder ich noch die anderen dich gebrauchen.“
„Ich hab genug auf dem Weg hier her geschlafen.“, antwortete Tyler dann und löffelte etwas kalte Suppe aus einer Dose.
„Tyler, mich interessiert das Leben anderer eigentlich nicht besonders, aber ich hab mich gestern ziemlich oft gefragt, was du durchgemacht haben musst.“ Der Blonde schaute ihn skeptisch an, machte aber keine Anstalten zu antworten. „Die Narbe in der Nähe von dem Streifschuss stammt auch von einer Waffe, oder? Und die Narben im Gesicht? Dachte erst, das käme von 'ner Verbrennung, aber mittlerweile glaub ich eher, dass es was anderes gewesen sein musste. Und die Narben auf deinem Rücken sehen so aus, als ob du ausgepeitscht wurdest.“
„Wurde ich nicht.“, antwortete er sofort und starrte wieder in seine Dose. Alex wartete noch einen Augenblick auf eine Erklärung, doch Tyler schwieg weiterhin. Offenbar wollte er nicht darüber reden und Alex schwieg lieber, bevor er mögliche Wunden wieder aufreißen würde. Dennoch wurde er immer neugieriger über Tylers Vergangenheit. Carlos und Wodka schienen uninteressant, da sie keine offensichtlichen Narben trugen, keine extravaganten Waffen besaßen und auch sonst nichts Spektakuläres vorzuweisen hatten. Bis auf Wodkas Fähigkeiten ein Fahrzeug zum Laufen zu bringen, aber darüber hatte Tyler bereits erzählt gehabt. Der Typ neben ihm allerdings konnte mit einem Schwert besser kämpfen als andere mit ihren eigenen Fäusten, hatte überall Narben, die schon so lang verheilt zu sein schienen, dass Alex glaubte sie als Kind oder Jugendlicher erhalten zu haben und über seine Psyche wollte er gar nicht erst anfangen zu grübeln. „Hat nicht jeder irgendwas Schlimmes durchgemacht, seit das Virus ausgebrochen ist?“, unterbrach Tyler dann Alex' Grübelei.
„Doch…“, antwortete er und dachte an seine und Rachels Vergangenheit. Der Tod seiner Eltern war schlimm, aber er war damals noch jung gewesen und er war mittlerweile drüber hinweg gekommen. Auch die Zeit danach allein mit seiner Schwester war nicht so traumatisch gewesen, als dass man ihm die schweren Jahre ansehen würde. Im Gegensatz zu Tyler, dessen Blick schon verriet, dass er selbst unter diesen Bedingungen ein verdammt beschissenes Leben gehabt haben musste. Gedankenversunken nahm er nur noch das Geräusch wahr, wie Tyler mit dem Löffel die Reste aus der Konserve kratzte.
„Bist du munter genug für die Wache?“, fragte Tyler dann und warf die Dose in den Straßengraben. Alex nickte nur schweigend. „Dann leg ich mich bis zum Sonnenaufgang hin. Weck mich, wenn irgendwas ist.“
„Mach ich.“, antwortete Alex dann. „Übrigens, tut mir Leid, dass ich dich angeschossen hab.“ Tyler kletterte leichtfüßig vom Dach und sprang dann ins Gras, woraufhin er eine wegwerfende Handbewegung machte.
„Schon ok.“, sagte er dann nur und verschwand in der Fahrerkabine des Trucks. Alex schaute in die dunkle Nacht hinaus und begann wieder zu grübeln, während Tyler noch eine ganze Weile wach blieb und versuchte seine Vergangenheit zu verdrängen, die Alex nun wieder hervor gewühlt hatte.
Comments (0)
See all