Tyler kroch auf dem Weg zur Schule durch die Büsche, um seinen Mitschülern nicht eher als nötig zu begegnen. Es reichte ihm schon, dass er sie während des Unterrichts ertragen musste. Er hasste die Schule und er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sein Vater ihm keinen Privatunterricht erlaubte. Stattdessen musste er sich jeden Morgen auf diese „Schule für arrogante Mistgören“ quälen. Selbst eine normale Schule mit normalen Kindern würde er angenehmer finden als die, auf die er nun seit vier Jahren ging. Er musste seine Tränen weg blinzeln, als er in der Nähe des Eingangstores aus dem Gebüsch kroch. Es klingelte grade zum Unterricht und die letzten Schüler beeilten sich, in ihre Klassen zu kommen. Tyler hatte einen Kloß im Hals, als er durch die Gänge huschte. Dadurch, dass er nun mitten in den Unterricht platzte, erregte er nur noch mehr Aufmerksamkeit, die er nicht wollte. Am liebsten wäre er unsichtbar. Zaghaft klopfte er an, murmelte eine Entschuldigung und huschte zu seinem Platz, während er sich das Getuschel und Gelächter der anderen über sich ergehen lassen musste. Er war froh, dass heute Freitag war und er seine Mitschüler dann zwei Tage lang nicht sehen brauchte. In der großen Pause nahm er sein Essen und blieb auf seinem Platz sitzen, während die anderen alle draußen spielen gingen. Ein paar Minuten später kamen aber ein paar andere Jungs rein und stellten sich vor seinen Tisch. Tyler hätte sich am liebsten so klein gemacht, dass er mit dem Tisch verschmolzen wäre und obwohl er Angst vor dem hatte, was bevor stand, schaute er zu den Jungs hoch.
„Willst du nicht langsam mal deine Augenbrauen wachsen lassen?“, fing einer der Jungen an zu sticheln und die anderen drei lachten. „Meine Schwester hat so 'nen Stift, womit sie ihre Augenbrauen anmalt. Ich glaub ich bring dir den Montag mal mit.“
„Wachsen lassen klappt sicher nicht. Ich hab gehört, sein Papa hat auch nicht grad viele Haare auf dem Kopf.“, meinte dann ein anderer. „Tyler sieht bestimmt auch bald kahl auf dem Kopf aus.“ Der Junge zupfte an seinem kurzen blonden Haar, woraufhin Tyler die Hand des anderen wegschlug.
„Bleib ruhig, Augenbrauenloser.“, murrte der erste Junge und holte einen Stift aus seiner Jackentasche. „Ich bin heut mal freundlich und tu dir einen Gefallen.“ Tylers Herz rutschte ihm in die Hose und als der erste Junge kurz mit dem Kopf nickte, schnappten die anderen drei sich Tylers Arme und seinen Kopf. Er wehrte sich, so gut er konnte, bekam aber die Faust seines Mitschülers auf die Nase. Tränen sammelten sich in seinen Augen, zum einen wegen dem Schmerz und zum anderen weil er panische Angst vor diesen Jungs hatte.
„Lasst mich los…!“, wimmerte Tyler und versuchte wieder, die Jungs abzuschütteln.
„Halt still, verdammt!“, schrie einer der Bengel und nahm ihn so sehr in den Schwitzkasten, dass er kaum noch Luft bekam. Der erste Junge zog die Kappe vom Stift und malte Tyler ein paar krumme Linien über die Augen. Dann ließen die anderen ihn los und verschwanden lachend aus dem Raum, während Tyler zusammen gesackt auf seinem Stuhl saß, wie ein Schlosshund weinte und versuchte die Striche aus seinem Gesicht zu wischen. Er benutzte seinen Ärmel, als es mit den Fingern nicht klappte und rubbelte so lang herum, bis sein Gesicht rot war und brannte. Dennoch war noch immer keine Spur des Stiftes auf seinem Pulli zu sehen und er musste nur noch mehr weinen. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie das Gelächter los ging, wenn die restliche Klasse ihn so sehen würde. Stolpernd rannte er aus dem Klassenraum, verkroch sich auf der Toilette und probierte mit Wasser der Verunstaltung zu Leibe zu rücken und zu seiner Erleichterung klappte das relativ gut. Erst, als alle Farbreste verschwunden waren und sein Gesicht sich rot und wund anfühlte, ging er zurück in das Klassenzimmer. Am liebsten wäre er nach Haus gegangen, aber das würde nur Ärger mit seinem Vater geben, also quälte er sich die letzten zwei Unterrichtsstunden ab.
„Tyler, wo sind deine schönen neuen Augenbrauen hin?“, spotteten ein paar Jungs, als sie von draußen rein kamen. Tyler verbarg seinen Kopf zwischen den Armen und wünschte sich, dass die anderen einfach verschwinden würden. „Haltet ihn noch mal fest.“ Er klammerte seine Arme um seinen Kopf, als die Jungs an seinen Handgelenken zerrten und Tyler begann wieder zu schluchzen.
„Lasst mich doch einfach in Ruhe…!“, rief er mit erstickter Stimme, fing sich aber nur einen Tritt in die Seite ein.
„Du bist 'n Mädchen, Larkin!“, beschimpfte ihn ein anderer und zerrte an seinem Arm. Ein weiterer zog an seinen Haaren, damit er gezwungen war, den Kopf zu heben. Zu Tylers Glück kam aber grade die Lehrerin rein, woraufhin die Jungs von ihm abließen und auf ihre Plätze gingen. Er brach in Tränen aus. Einerseits erleichtert, andererseits voller Panik. Seine Lehrerin kam zu ihm und hockte sich vor ihm hin.
„Was ist los, Tyler?“, fragte sie, doch er vergrub nur das Gesicht zwischen den Armen und schüttelte dürftig den Kopf. „Wenn du nicht mit mir reden willst, kann ich dir nicht helfen.“ Wieder schüttelte er den Kopf und die Lehrerin erhob sich schweigend. Die restlichen zwei Stunden hindurch schluchzte er noch vor sich hin und versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, was ihm sichtlich schwer fiel. Als es zum Stundenende klingelte, wartete er eine ganze Weile, ehe er raus ging, damit er den anderen nicht über den Weg lief, dann machte er sich durch die Büsche auf den Heimweg. Er war so unglaublich erleichtert, dass er nun Wochenende hatte und seine Mitschüler nicht sehen brauchte, dass er beinah über die Haustürschwelle gestolpert wäre.
„Tyler, pass gefälligst auf, wenn du schon hier im Haus rum laufen musst.“, hörte er plötzlich die herrische Stimme seines Vaters und als er sich umschaute, entdeckte er ihn auf der großen Treppe in der Eingangshalle. Sein Vater war eine furchteinflößende Erscheinung und als er ihn die Treppe runter kommen sah, erinnerte er sich daran, dass es zu Haus nur wenig besser war als in der Schule. Sein Vater blieb vor ihm stehen, musterte seinen Sohn, machte aber keine Anstalten sich zu ihm runter zu beugen. Im Gegenteil: Tyler hatte das Gefühl, als würde er sich noch größer machen.
„Entschuldige…“, murmelte Tyler und senkte den Blick.
„Hast du wieder geweint?“, fragte sein Vater dann nach, doch Tyler antwortete nicht. „Antworte, Tyler!“
„Ja, hab ich…“, antwortete der Junge schließlich nach kurzem Zögern.
„Langsam solltest du anfangen erwachsen zu werden. Ich will die Firma nicht einem schwächelndem Jammerlappen vererben.“, herrschte sein Vater ihn an und ging an ihm vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten. Tyler blieb noch eine Weile in der Eingangshalle stehen und versuchte sein Zittern in den Griff zu bekommen. Ich will seine dumme Firma gar nicht erben…, dachte er frustriert und machte sich dann auf den Weg in sein Zimmer. Dort angekommen warf er seinen Rucksack lieblos in eine Ecke, schaltete den Fernseher an und kringelte sich so klein wie möglich auf der Couch zusammen.
„Die US Army und die US Navy sind bereits vor Ort und versuchen, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.“, sagte eine Sprecherin in den Nachrichten. „Die gesamte Stadt ist in Aufruhr, bereits über sechshunderttausend Tote wurden gezählt und die Bewohner der Regionen, die noch nicht befallen sind, werden aus der Stadt evakuiert. Alle Menschen, die in einem Umkreis von fünfzig Kilometern wohnen, sollen ebenfalls unverzüglich ihre Wohnungen verlassen und Schutz in anderen Gegenden suchen, bis die Krise eingedämmt werden kann.“
„Ist schon bekannt, was genau passiert ist?“, fragte ein männlicher Nachrichten-Sprecher und Tyler horchte auf. In der Welt passierte ständig irgendwas Schlimmes, aber diesmal scheint es näher zu sein, als ihm lieb war.
„Nein, bisher nicht. Es scheint sich aber um den Virus zu handeln, der bereits in Eurasien und Afrika gewütet hat. Trotz akribischer Sicherheitsmaßnahmen und Einreiseverboten sieht es danach aus, dass das Virus die Vereinigten Staaten erreicht hat. Dennoch geht man von einem biologischen Terrorangriff aus, da immer noch nicht sicher ist, ob es sich wirklich um diesen handelt und man den Ursprung nicht kennt.“, meinte die Frau im Fernsehen und der Mann wurde bleich. „Wir wissen bereits, dass das, was auch immer die Einwohner verändert, durch den Speichel in offene Wunden gelangt und Gebissene ebenfalls damit infiziert werden. Daher wird dringend geraten, niemanden so nah an sich heran zu lassen, dass man gebissen werden könnte.“
„Woran erkennt man die Infizierten?“, fragte der Mann sichtlich betroffen.
„Nur an deren äußerst aggressiven Verhalten.“, antwortete die Frau wieder. „Äußerlich kann man sie kaum von gesunden Menschen unterscheiden, sie kommunizieren und agieren normal, sind bei Verstand, weisen keine Schwächung des Körpers auf. Allerdings weisen die Bisswunden einen rötlichen Ausschlag auf, der sich nur langsam ausbreitet.“ Verrückt…, dachte Tyler, als er das Gespräch im Fernsehen verfolgte.
„Achten Sie, werte Zuschauer, unbedingt auf sichtbare Bisswunden, halten Sie zu jeder Person genügend Abstand, selbst wenn sie zur Familie gehören und suchen Sie dringend Schutz in ländlichen Gegenden, bis diese Epidemie eingedämmt werden kann.“, sprach der Mann dann direkt in die Kamera, woraufhin er sich erneut an die Frau wandte. Tyler schaltete um, als der Mann den Mund aufmachte. Ihm gefiel dieses Thema ganz und gar nicht. Das Leben war so schon hart, da musste er sich nicht noch über eine Epidemie sorgen, die irgendwo in den USA ausgebrochen war. Genervt schaltete er weiter um, als er feststellte, dass auf beinah jedem Sender Nachrichten über die Epidemie liefen. Schließlich blieb er auf einem Sender stehen. Ein Helikopter flog über eine Stadt und filmte die Ausmaße des Ausbruchs. Überall griffen zivile Menschen Soldaten an, die diese dann erschossen, bevor sie gebissen werden konnten. Läden wurden an jeder Ecke geplündert. Häuser und Menschen in Brand gesetzt. Unzählige Fahrzeuge, die die Stadt verließen und dabei im Stau stecken blieben. Es war ein unvorstellbares Szenario und Tyler wurde flau im Magen. Er hatte nicht das Gefühl, als ob das Militär die Situation unter Kontrolle hatte. Gebannt und entsetzt schaute er sich die Bilder im Fernsehen an und bemerkte gar nicht, wie er zu zittern begann.
„Tyler.“, unterbrach ihn plötzlich sein Vater und er fuhr erschrocken zu ihm herum. Sein Herz hatte für eine Sekunde aufgehört zu schlagen, beruhigte sich aber schnell wieder, als er merkte, dass es hier sicher war. „Ich muss noch mal ins Büro. Wir haben eine Notfallsitzung wegen den Ereignissen in Washington. Roswita passt während meiner Abwesenheit auf dich auf.“
„Ok.“, antwortete Tyler etwas verwirrt. Notfallsitzung…?, fragte er sich. Es musste wirklich übel dort sein, wenn sein Vater, Inhaber eines großen Pharmakonzerns, eine Notfallsitzung an einem Freitagnachmittag einberufen musste. Ohne ein weiteres Wort an seinen Sohn zu verlieren verließ er das Kinderzimmer und kurze Zeit später hörte Tyler seinen Wagen weg fahren. Er war unglaublich erleichtert, dass er nun eine ganze Weile mehr oder weniger allein im Haus war. Roswita war das Hausmädchen, eine Art Ersatz für seine verstorbene Mutter. Die mollige, kleine Frau kümmerte sich im Haus um alles, was anfiel, selbst wenn es ums Babysitten von Tyler ging und obwohl sie zeitweise sehr streng war, war sie ihm immer noch lieber als sein Vater.
Den restlichen Tag verbrachte Tyler zumeist allein, worüber er ganz glücklich war. Bevor er ins Bett ging, hatte Roswita mit ihm Karten gespielt und in solchen Momenten war er dann froh, dass jemand bei ihm war, der ihn offensichtlich nicht hasste. Doch als er im Bett lag, bekam er kein Auge zu, weil ihm noch die unangenehmen Ereignisse des Tages im Kopf herum schwirrten. Die Gemeinheiten seiner Klassenkameraden, die herrische Art seinen Vaters und diese unheimliche Epidemie in Washington waren etwas zu viel für einen Tag im Leben eines Zehnjährigen. Dennoch schlief er nach einer ganzen Weile ein.
Den nächsten Tag verbrachte er ebenfalls meistens allein, weil sein Vater sich in seinem Arbeitszimmer verkrochen hatte und Roswita mit der Hausarbeit beschäftigt war. Am Nachmittag setzte er sich deswegen vor den Fernseher und wollte etwas Erfreuliches über den Ausbruch in Washington hören. Doch alles, was er erfuhr, war alles andere als erfreulich. Das Virus breitete sich aus und mittlerweile sprachen die Reporter über eine Pandemie. Inzwischen gab es Berichte über Infizierte in den mittleren Bundesstaaten der USA und es würde nicht lang dauern, bis der Erreger auch die Westküste erreichte. Tyler rutschte das Herz in die Hose. Sein Gefühl wurde noch schlimmer, als davon die Rede war, dass noch keine Erklärung gefunden wurde und die Menschheit tappte nach wie vor im Dunkeln, ob es ein Angriff mit Biowaffen war oder ein einfacher Krankheitserreger. Als der Nachrichtensprecher wie am Vortag erneut dazu aufrief, die großen Städte zu verlassen und in ländliche Gegenden zu fliehen, sprang Tyler von seinem Sofa auf, rannte aus dem Zimmer, die Treppen runter, flitzte an Roswita vorbei und platzte in das Arbeitszimmer seines Vaters. Roswita hatte versucht, ihn aufzuhalten und zog ihn an den Schultern zurück, als sein Vater empört aufschaute.
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