„Dad, wir-“, begann Tyler, doch die Hausfrau hielt ihm den Mund zu.
„Entschuldigen Sie die Störung.“, entschuldigte sie sich und wollte Tyler aus dem Zimmer zerren, als der sich mit Händen und Füßen wehrte, sich schließlich von ihr los riss und zum Schreibtisch seines Vaters lief.
„Dad, wir müssen weg hier!“, rief er dann, doch sein Vater schwieg. „Diese… diese Panternie kommt hier her und wir sollen aus den größeren Städten raus!“
„Es heißt „Pandemie“, Tyler, und wir sind hier vollkommen sicher. Der Erreger verbreitet sich nicht über die Luft, sondern über Körperflüssigkeiten.“
„Aber… Hast du nicht gesehen, was sie aus den anderen Städten gemacht haben?! Wir sind hier nicht sicher!“, brüllte er seinen Vater voller Panik an. Seelenruhig erhob er sich von seinem Stuhl, ging um den Tisch herum, packte seinen Sohn am Pullover und warf ihn regelrecht in Roswitas Arme. „Dad!“, rief er noch einmal, handelte sich aber eine schallende Ohrfeige ein. Erschrocken schaute er zu seinem Vater hoch und erschrak, als er in dessen Augen starrte. Er sah nichts weiter als pure Abneigung gegen seinen Sohn.
„Du wagst es, in so einem Ton mit mir zu Reden…?“, herrschte er ihn an und Tyler fürchtete sich vor dem Klang in seiner Stimme. Diese kontrollierte Missbilligung war schmerzhafter als unbeherrschte Wut. „ICH sage, wann wir das Haus verlassen und wo es sicher ist, nicht so ein verzogener Jammerlappen wie du. Schaff ihn mir aus den Augen, Roswita.“ Die Hausfrau nickte nur und zog Tyler mit sich aus dem Zimmer.
„Du hättest mit Mom sterben sollen!“, brüllte Tyler ihn dann an und Tränen schossen ihm in die Augen. „Als Waise wäre es immer noch angenehmer als einen Vater wie dich zu haben!“ Ohne eine Miene zu verziehen knallte sein Vater die Tür vor seiner Nase zu und Tyler brach vor dem Zimmer zusammen. Roswita kniete sich zu ihm runter und versuchte ihn zu trösten, doch es dauerte lange, bis er sich wieder beruhigt hatte.
„Lass uns ein paar Sachen zusammen packen. Nur für den Notfall.“, meinte sie dann und Tyler nickte schweigend. Beide gingen dann hoch in Tylers Zimmer und begannen damit, ein paar wichtige Sachen in seinen Schulrucksack zu packen. Die Bücher und Hefte hatte er lieblos auf den Boden geworfen und ließ sie dort auch liegen. Erst Roswita sammelte die Schulsachen auf und verstaute sie in einem Schrank. Danach spielten sie wieder Karten, doch Tyler war in Gedanken immer noch bei seinen Eltern gewesen. Seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war, bei einem Autounfall. Sie war frontal gegen eine Mauer gefahren und Tyler hatte sich oft gefragt, ob sie mit Absicht dort gegen fuhr, um seinem Vater zu entkommen. Dieser Gedanke hatte sich inzwischen in seinem Hirn so festgesetzt, dass er sie kaum noch vermisste und eher wütend auf sie war, dass sie ihn hier allein gelassen hatte. Allein mit seinem Vater, der in Tyler ein lästiges Anhängsel sah. Einen Parasiten, der sich an den Wirt klammerte und diesem mehr schadete als nützte. Er hatte in der Schule einmal etwas über Parasiten und seine Wirte gelernt. In der Regel starb der Wirt nicht, aber Tyler wünschte sich nicht das erste Mal, dass sein „Wirt“ den Löffel abgeben würde. Einen Augenblick später erschrak er sich aber über diesen Gedanken, denn wenn dieses Virus, oder was auch immer grade die Vereinigten Staaten heimsuchte, Portland erreichte, war die Chance gering, dass ausgerechnet so feine Pinkel wie er und sein Vater da unbeschadet raus kommen würden.
„Worüber grübelst du?“, unterbrach Roswita ihn und er schaute verwirrt zu ihr hoch. Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, was sie gefragt hatte.
„Über diese Panternie.“, antwortete er dann und zog eine Karte von Roswitas Blatt. Er verglich seine Karten mit der neu Gezogenen und steckte sie dann schweigend dazwischen. „Glaubst du, dass das hier her kommen wird…?“
„Wahrscheinlich.“, sagte sie dann und zog eine Karte von seiner Hand. „Aber mach dir keine Sorgen. Dieses Haus ist gut geschützt und morgen früh werden ein paar Sicherheitsbeamte kommen, die uns beschützen werden, falls einer von diesen Verrückten auf das Grundstück kommt.“
„Warum bleiben wir hier? In den Nachrichten haben sie gesagt, dass alle Menschen, die nicht gebissen wurden, aufs Land gehen sollen.“
„Hm…“, machte Roswita und verglich ihre Karten. „Wir haben hier vier dicke Wände, ein stabiles Dach und einen hohen Zaun. Es gibt keinen sicheren Ort als diesen.“ Sie warf ein Kartenpaar weg und Tyler zog eine Karte von ihr. „Du solltest deinem Vater vertrauen. Er ist zwar etwas eigensinnig, aber er würde nicht wollen, dass dir was passiert. Immerhin bist du sein einziges Kind.“
„Wenn du meinst…“, murmelte er dann. Er glaubte ihr kein Wort und am liebsten wäre er allein weggegangen. Doch wo sollte er schon hin? Er war nie aus diesem Bonzen-Viertel heraus gekommen, ganz zu schweigen, dass er die Gegend außerhalb der Stadt kannte.
„Zerbrich dir nicht den Kopf. Es wird schon alles gut gehen. Du wirst sehen, die Menschheit überlebt sowas nicht das erste Mal. In ein paar Wochen ist wieder alles so, wie du es gewohnt bist.“ Tyler nickte schweigend und hoffte, dass sie recht behalten würde.
Doch Roswita behielt nicht recht. Sonntag am frühen Nachmittag ertönte Lärm auf den Straßen und drang durch die geschlossenen Fenster in Tylers Zimmer. Als er aus dem Fenster schaute, sah er nur einige Menschen mit Schusswaffen, die die Straße entlang liefen. Es ist da…, dachte er erschrocken und wollte grade aus dem Zimmer zu seinem Vater laufen, blieb an der Tür mit einer Hand am Knauf stehen und starrte das Holz vor ihm an. Er dachte an die Ohrfeige, die er am Vortag bekommen hatte und dadurch rührte sich kein Muskel in seinem Körper. Schließlich ließ er mit zitternden Händen den Knauf los und wich etwas von der Tür zurück. Egal, was auch kommen mag, er blieb in seinem Zimmer. Soll er doch allein sterben…, dachte er wütend, auch wenn er nicht mal wusste, ob Infizierte überhaupt starben. Vorausgesetzt sie wurden nicht vom Militär erschossen. Ängstlich ging er zurück zur Couch, drehte die Lautstärke des Fernsehers so laut, dass er den Lärm draußen nicht mehr hörte und rollte sich unter seiner Decke zusammen. In den Nachrichten war die Rede, dass sie sämtlichen Kontakt nach San Francisco, Washington D.C., Detroit, Jacksonville, Denver, Tucson und diversen kleineren Städten verloren hatten. Wenn ein Helikopter für die Nachrichtensender über diese Städte hinweg flogen, sahen sie nur noch leere Straßen, beschädigte Gebäude, verlassene Fahrzeuge und Leichen. Tylers Herz raste, als er die Bilder sah und er hätte am liebsten geheult, weil er Angst vor der Zukunft hatte, doch wenn sein Vater in einem Punkt recht hatte, dann in dem, dass Tyler langsam erwachsen werden sollte. Wenn Portland so enden sollte wie die anderen Städte, zu denen der Kontakt abbrach, dann konnte er sich nicht erlauben heulend in einer Ecke zu hocken.
Erst am frühen Abend wurde der Lärm auf den Straßen so laut, dass der Fernseher ihn nicht mehr übertönen konnte. Er schrak auf, als der Lärm plötzlich im Haus los ging. Er hörte einige Schüsse in der Eingangshalle, zuckte so heftig zusammen, dass er beinah vom Sofa gefallen wäre und starrte panisch zur Tür. Roswita schrie kurz, wieder hallten Schüsse durch das Haus. Ein paar der Sicherheitsmänner bellten Befehle und Tyler hörte, wie einige Füße die Treppen hoch polterten. Wieder ertönten Schüsse, dann Schreie und kurz darauf war alles still. Sein Herz schlug schmerzhaft gegen die innere Seite seines Brustkorbes und das Atmen fiel ihm unglaublich schwer.
„Roswita…?“, wollte er rufen, doch seine Stimme war so brüchig, dass er sich selbst kaum hörte. Er stand schließlich von der Couch auf, ging langsam zur Tür und lauschte, doch er hörte nichts. Der Lärm auf den Straßen war noch immer so laut, dass er leisere Geräusche im Inneren des Hauses nicht hören konnte. Er riss seinen gesamten Mut zusammen, öffnete die Tür und schaute raus. Es war alles dunkel, doch seine Augen gewöhnten sich schnell daran. Er sah, wie die Kronleuchter zertrümmert auf dem Boden lagen, Teile vom Treppengeländer waren heraus gebrochen, Teppiche lagen schief und zerwühlt herum, Gemälde hatten Schusslöcher und überall lagen Menschen herum, die von dunklen Flecken umgeben waren. Tyler zitterte am ganzen Leib, konnte kaum einen Schritt machen, seine Brust schnürte sich zu und er bekam kaum noch Luft. Er griff sich mit einer Hand in den Pulli, bis seine Fingerknöchel weiß heraus traten.
„Tyler…“, hörte er auf einmal links von ihm eine vertraute Stimme, die aber nun eher nach einem Röcheln klang. Erschrocken fuhr er herum, fiel auf den Hintern und als er Roswita erkannte, starrte er sie voller Panik an. Sie lag mit dem Rücken auf dem Boden, eine Hand an der Kehle, eine Frau und ein Mann beugten sich über ihren Leib und rissen mit den Mündern große Fleischstücke aus ihr heraus. Roswitas Blick war kalt und sie wollte einen Arm nach ihm ausstrecken, doch als plötzlich eine Fontäne Blut aus ihrem Hals schoss, presste sie ihre Hand wieder auf die Wunde. Tyler rauschte sein eigenes Blut so sehr in den Ohren, dass er das schmatzende Geräusch der beiden Infizierten nicht hörte. „Lauf zu deinem Vater…“, röchelte sie hervor, hustete Blut und starrte den Jungen weiterhin an. Die beiden Infizierten wandten sich zu ihm um und er versuchte aufzustehen, doch seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr.
„Hey…“, sagte die Frau über Roswita und wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht. „Tut mir Leid, dass du das mit ansehen musstest…“ Tyler ignorierte, was sie eben gesagt hatte. Er wollte nur so schnell wie möglich weg hier. Weg von Roswita, weg von diesen beiden Fremden, weg aus diesem Haus. Er zuckte kurz zusammen, als die Frau langsam aufstand und mit offener Handfläche auf ihn zu kam, als wolle sie ein scheues Tier füttern. „Keine Angst, wir tun dir nichts.“
„Lauf… Tyler…“, versuchte Roswita zu rufen und als Tyler an der fremden Frau vorbei zu seiner einzigen Freundin starrte, trat der Mann mit unbändiger Wut auf ihren Kopf ein, bis Roswita sich nicht mehr rührte. Dort, wo einmal ihr Kopf war, war nun ein matschiger, blutender Fleischklumpen. Ihre Augen, das einzige, was man noch erkannte, waren starr und schauten ihn noch immer an. Tränen liefen ihm über die Wangen und er konnte seinen Blick einfach nicht abwenden, egal wie sehr er es wollte.
„Dein Name ist Tyler?“, fragte der fremde Mann und kam ebenfalls auf ihn zu.
„Bleib, wo du bist, du Idiot. Du verschreckst ihn sonst noch.“, maulte die Frau ihren Gefährten an, der daraufhin sofort stehen blieb. Tyler hingegen konnte seinen Blick endlich von Roswita abwenden, drehte sich um und polterte auf allen Vieren zu den Stufen hin.
„Scheiße…!“, schnarrte der Mann und stürzte auf Tyler zu, packte seine Beine und zog ihn zurück. Tyler trat voller Panik auf den Fremden ein, schlug ihm mit den Fäusten ins Gesicht und gegen die Brust. Die Frau stand wenige Meter entfernt und lachte.
„Du schaffst es nicht mal ein Kind einzufangen?“, spottete sie und grade, als der Mann zubeißen wollte, rammte Tyler ihm seine Finger in die Augen. Er ignorierte das Gefühl seiner geplatzten Augäpfel, stieß ihn mit dem Fuß von sich runter. Der Infizierte brüllte, sprang auf, taumelte rückwärts und fiel über das Geländer der Galerie in die untere Etage. Die Frau und Tyler schauten erschrocken dorthin, wo er herunter stürzte. Die Frau schnaubte kurz und wollte zu dem Jungen, der erschrak und rückwärts die Treppe runter purzelte. Unten schlug er mit dem Kopf auf den harten Boden und für einen kurzen Moment verschwamm die Eingangshalle. Er sah unscharf die Frau herunter laufen und als sie sich auf ihn werfen wollte, rollte er sich zur Seite, stand auf und lief taumelnd zum Arbeitszimmer seines Vaters. Er hatte nur noch einen einzigen Gedanken: Die Schwerter, die er in diesem Zimmer zur Zierde an den Wänden hängen hatte. Er wusste nicht, ob sie scharf waren, aber zur Not konnte man damit auch einen Menschen erschlagen. Der Weg kam ihm unglaublich weit vor, er strauchelte ab und zu und er wagte es nicht, sich nach der Frau umzusehen. Sie war definitiv noch hinter ihm, das verrieten ihm die Schritte, doch er wollte nicht wissen, wie gering der Abstand war. Sie brüllte irgendwas, das er nicht verstand. Sein Kopf dröhnte noch immer wegen dem Sturz und er konzentrierte sich auf die Tür, hinter der er sich wenigstens etwas sicher fühlen konnte. Als er die Tür endlich erreichte, riss er sie auf, lief hinein, schlug die Tür wieder zu, kletterte auf eines der Regale und griff das erstbeste Schwert, das er in die Finger bekam. Die Frau kam grade rein, als er die Klinge aus der Verankerung nahm und sie lächelte, als er ungeschickt vom Regal fiel. Er blieb auf dem Boden sitzen, presste sich mit dem Rücken gegen das Regal und erhob die Klinge gegen die Frau. Mit beiden Händen umklammerte er das Heft, zitterte aber so sehr, dass er die Waffe kaum ruhig halten konnte.
„Bitte… Ver-verschwinden Sie einfach wieder…“, stammelte er unter Tränen. „I-ich will ihnen nichts tun…“
„Dafür ist es zu spät, Kleiner. So Leid es mir auch tut.“, antwortete sie, trat ihm das Schwert aus der Hand und drückte ihn auf den Boden. Grade, als sie zubeißen wollte, schlug er ihr mit der Faust so heftig gegen den Kopf, dass sie zur Seite weg kippte. „Du verdammter…!“, murrte sie und rieb sich die Schläfe. Tyler reagierte schnell, kroch unter der Frau hervor, eilte zum Schwert, sammelte es vom Boden auf und fuhr herum. Etwas Nasses spritzte in sein Gesicht und als er aufschaute, sah er, dass die Frau direkt in die Klinge gelaufen war. Sie klammerte sich an seine Schultern, ließ ihre Zähne aufeinander knallen, als ob sie ein letztes Mal beißen wollte und sackte dann zusammen. Tyler stand schockiert da, ließ das Heft aber nicht los. Seine Hände waren wie festgeschweißt.
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