Ich hab zwei Menschen ermordet… Ich bin ein Mörder…!, ging ihm plötzlich durch den Kopf und erschrocken über sich selbst taumelte er zurück, knallte mit dem Rücken gegen den Schreibtisch seines Vaters und starrte wie hypnotisiert auf die Frau, in deren Leib noch immer das Schwert steckte. Mörder! Genau wie die beiden! Er rutschte auf den Hintern, zog die Knie an und verbarg wimmernd seinen Kopf zwischen seinen Armen. Er brach in Tränen aus, wimmerte immer wieder, dass er ein Mörder sei und sobald er die Augen schloss, sah er Roswitas starren Blick und die blutenden Körper der anderen beiden vor sich. Er war froh, dass er sich die anderen toten Körper in der Eingangshalle nicht genau angesehen hatte…
Er weinte eine ganze Weile, bis schließlich alle Tränen versiegt waren und ein dumpfes, leeres Gefühl zurück blieb. Ich bin ein Mörder und genau so müssen Mörder sich fühlen. Jedes andere Gefühl wäre doch unfair, oder…? Wie benommen stand er auf, wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel trocken und schaute die Frau an. Er wollte das Schwert nicht aus ihr heraus ziehen, also schaute er sich an den Wänden um. Es gab ein Schwert, das er schon immer am tollsten gefunden hatte. Sein Vater hatte ihn einmal windelweich geprügelt, als Tyler es aus der Halterung genommen hatte, um damit zu spielen. Das war schon lange her und seitdem hatte er es nur aus der Ferne bewundert. Er hatte sich immer vorgestellt, wie er als Ritter mit diesem Schwert die Feinde bezwingen würde, die sich über seine Augenbrauen lustig machten. Das kam ihm plötzlich alles furchtbar albern und kindisch vor. Er war kein Ritter und seine Klassenkameraden waren nun sein geringstes Problem. Er hatte Menschen getötet, um sein eigenes wertloses Leben zu retten. Lebende Personen, wie sein Vater, wie Roswita, wie die Lehrer an seiner Schule, lebende Personen wie er selbst eine war. Sollte er zur Polizei gehen? Er dachte an die Nachrichten und er fragte sich, wie viele normale Bürger wohl in den letzten Tagen zu Mördern wurden. Hunderte, tausende, wenn nicht sogar millionen von Menschen. Entweder sie töteten so wie die beiden Fremden oder sie töteten, wie er selbst, aus Notwehr.
Notwehr…, dachte er plötzlich, wandte seinen Blick zur Frau und kniff die Lippen zusammen. Notwehr… Ist man ein Mörder, wenn man aus Notwehr tötet…?, fragte er sich, rieb sich die Augen und schaute wieder zu dem Schwert. Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich von der Wand nehmen sollte. Sein Vater würde ihn dafür sicherlich wieder schelten, wenn es nicht dort an der Wand hängen würde. Andererseits war er ohne Waffe schutzlos. Schließlich kletterte er auf den Schrank, nahm die Scheide und das Schwert, sprang ungeschickt vom Regal runter und überlegte, wie er es transportieren sollte. Er wollte es an seinem Gürtel befestigen, doch er war zu klein und die Waffe würde ihn dann eher beim Gehen und Laufen behindern. Gürtel, na klar. Er legte das Schwert samt Scheide auf den Boden, öffnete seinen Gürtel, zog ihn aus den Schlaufen an seiner Hose und befestigte ihn so an der Scheide, dass er das Schwert auf dem Rücken tragen konnte. Auf diese Weise würde es ihn auch nicht behindern. Seine Hände zitterten noch immer, als er sich die Waffe über warf und sie zurechtrückte. Es fühlte sich komisch an, mit einem so gefährlichen Gegenstand herum zu laufen und er schwor sich, dass er es nur in absoluten Notfällen benutzen würde. Als er das Arbeitszimmer verlassen wollte, machte er einen großen Bogen um die tote Frau. Er schlängelte sich einen Weg vorbei an den Leichen auf der Suche nach seinem Vater. Er wollte erst oben nach ihm sehen, doch dann hätte er an Roswita vorbei gemusst und er wollte sie nicht sehen. Ihr Anblick schwirrte noch immer vor seinem geistigen Auge umher und er mahnte sich, dass er ihr nicht geholfen hatte. Sie war seit dem Tod seiner Mutter die einzige Person gewesen, die er leiden konnte. Doch nun war sie tot. Mit einem kräftigen Kopfschütteln versuchte er den Gedanken an sie zu verdrängen und konzentrierte sich auf die Suche nach seinem Vater, falls er nicht schon längst das Weite gesucht hatte. Er wollte grade in das Esszimmer gehen, als er vom Inneren ein Stöhnen hörte und abrupt stehen blieb. Das Herz rutschte ihm wieder in die Hose und er griff nach dem Heft des Schwertes, ohne es jedoch zu ziehen. Langsam schaute er um die Ecke und war überrascht, als er seinen Vater blutüberströmt im Raum liegen sah. Der große Esstisch war zerborsten, die Stühle lagen kreuz und quer herum, der Kronleuchter hing auf halb acht und in all dem lag sein Vater, sich vor Schmerzen krümmend. Tyler blieb im Schatten stehen und starrte ihn an, unfähig irgendwas zu fühlen. Sollte ich nicht erschrocken sein…? Oder sollte ich nicht Hilfe holen…? Oder… sollte ich ihm nicht irgendwie helfen…?, dachte er nach, doch er fühlte nichts. Kein Bedürfnis ihm zu helfen. Im Gegenteil: Er musste ein Grinsen unterdrücken. Er nahm die Hand vom Heft und wollte grade wieder weg gehen, als sein Vater ihn bemerkte und seinen Namen rief. Wie angewurzelt blieb er stehen und wandte sich erneut zu ihm um.
„Tyler… Im großen Badezimmer sind Medikamente und Verbandsmaterial… Hol es bitte her…“, stöhnte er, doch Tyler bewegte sich keinen Zentimeter vom Fleck. „Nun mach schon…!“
„Nein.“, antwortete er und erschrak sich selbst, wie kühl er klang. Er deutete mit dem Finger auf die Wunden, die sein Vater überall am Körper hatte. „Dafür gibt es kein Heilmittel, oder? Das hätten die sonst in den Nachrichten gesagt.“ Sein Vater starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen an. „Du bist einer von denen, selbst wenn ich dir die Medikamente aus dem Bad hole. Und dann würdest du mich auch nur beißen.“
„Hol… die… verdammten… Medikamente…!“, fuhr er seinen Sohn mit vor Wut bebender Stimme an. „Hol sie!“ Noch immer rührte er sich nicht, starrte nur die Bisswunden an. Er versuchte sich daran zu erinnern, was die Reporter im Fernsehen gesagt hatten. Auf jeden Fall Abstand wahren. Doch was noch? Sollte er seinen Vater einfach liegen lassen, bis er Jagd auf ihn machen konnte? Nein… Dieses Wort hallte penetrant in seinem Kopf nach, bis er es schließlich aussprach.
„Nein.“, sagte er erneut, blieb aber völlig ruhig. Roswitas Anblick hatte ihn unglaublich aufgewühlt, doch der Anblick seines Vaters war… befriedigend. Er machte ein paar Schritte auf seinen Vater zu. Er liegt am Boden, nicht ich. Er ist der gepeinigte… nicht ich… Der Gedanke gefiel ihm erschreckend gut und er hatte Lust auf seinen Vater einzutreten, wie der fremde Mann es bei Roswita getan hatte. Doch er war kein Monster. Er konnte seinen Vater nicht zu Tode treten. Oder doch…?
„Tyler, was zum…“, begann sein Vater und starrte erschrocken zu ihm, als sein Sohn sich neben ihn hockte. „Hol endlich die Medikamente… Ich will hier nicht sterben…“
„Du wirst aber sterben. Wenn ich dir das Zeug hole, wird das Militär dich erschießen, weil du Infiziert bist.“ Beide schwiegen einen Moment, bis Tyler wieder das Wort ergriff und aufstand: „Ich tu nur das, was du mit mir gemacht hast, seit… seit ich denken kann. Du verdienst den Tod…“
„Ich… du missratener Bengel! Ich hätte dich mit deiner Mutter mitfahren lassen sollen! Ich werde nicht sterben! Nicht an diesen kleinen Wunden!“ Schweigend ergriff Tyler das Schwert und als er es eher tollpatschig zog, riss sein Vater die Augen auf. „Ich hatte dir doch verboten die Schwerter von den Wänden zu nehmen…“ Tyler zog nur die Schultern hoch und biss sich auf die Unterlippe. Noch ein falsches Wort… „Bring es wieder weg…“ Er rührte sich wieder kein Stück und als sein Vater sich stöhnend erheben wollte, drückte er ihn mit dem Fuß runter. Tyler war eigentlich nicht stark, aber in der momentanen Verfassung seines Vaters hätte selbst ein einfaches Blatt Papier gereicht, um ihn zurück auf den Boden zu pressen. „Ich werde nicht sterben… Ich werde dich überleben. Dich und jeden anderen ebenfalls.“ Schweigend hob Tyler das Schwert und der Blick seines Vaters wandelte sich von Übermut zu Entsetzen. „Ich… ich will nicht sterben…!“, brüllte er und versuchte sich aufzurichten, doch Tyler stieß die Klinge in seinen Kopf. Sein Vater röchelte, dann war er tot. Er erschrak, aber nicht, weil er seinen Vater getötet hatte, sondern weil es ihm so unglaublich leicht fiel. Abgesehen von dem Schock über seine nichtvorhandenen Gefühle, fühlte er sich leer. Er hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als er das Schwert niedersausen ließ. Da war nicht eine Regung, die Ermordung seines Vaters ließ ihn absolut kalt. Seine Sinne waren zwar betäubt, aber das war ihm grade egal. Er zog das Schwert aus dem Leichnam und ging in die Eingangshalle zurück. Ein paar weitere Infizierte kamen grade durch die offene Tür in das Haus und als sie Tyler sahen, beschleunigten sie ihre Schritte. Er hatte Zeit einmal durch zu atmen, doch dann ließ die Emotionslosigkeit langsam wieder nach und Panik füllte seinen Geist. Sein Vater war eine Sache, diese fremden Menschen eine ganz andere. Sie waren schneller, größer und stärker als er selbst, lagen nicht bewegungslos am Boden. Es waren drei Männer und zwei Frauen und als sie näher kamen, begann er wieder zu zittern. Er wollte genauso wenig sterben wie sein Vater, also blieben nur zwei Möglichkeiten: Ums Überleben kämpfen oder so schnell fliehen, wie er konnte. Viel Zeit zum Überlegen hatte er nicht und wie aus einem Reflex heraus erhob er das Schwert und rammte es einem der Männer durch den Leib. Bevor der Fremde Tyler unter sich begraben konnte, stieß er ihn mit dem Fuß zur Seite, zog das Schwert raus und schaute zu den anderen, die direkt hinter dem Mann waren. Tyler hatte keine Zeit darauf zu achten, ob der andere wirklich tot war und er wollte es auch gar nicht wissen. Er hatte heute genug Tote gesehen und würde wahrscheinlich auch noch die nächsten Tage mehr als genug Leichen zu Gesicht bekommen. Dennoch musste er sich überwinden und es war ihm selbst nicht geheuer, wie leicht es ihm fiel die anderen Personen in seinem Elternhaus zu töten. Erschreckend schnell lagen die Erwachsenen blutend und zuckend am Boden und Tyler war wie durch ein Wunder unverletzt. Abgesehen davon, dass er außer Atem war, ging es ihm gut. Er wollte sich grade zu den sterbenden Körpern umdrehen, ließ es aber bleiben. Stattdessen dachte er nur daran, dass er so schnell wie möglich hier weg musste. Mit dem Schwert in der Hand lief er die Treppe hoch zu seinem Zimmer, behielt seinen Blick aber auf seinen Füßen, um Roswita nicht noch einmal ansehen zu müssen. Eilig schnappte er sich den Rucksack, den er mit ihr für Notfälle gepackt hatte, und lief die Treppen wieder runter. Er wollte erst den Haupteingang nehmen, doch da würde er wahrscheinlich auf noch mehr Infizierte treffen. Also drehte er in der Eingangshalle um und lief durch die Küche, in der sich ebenfalls eine Tür nach draußen befand. Erst, als er einige Meter vom Haus entfernt war, sprang er in die dortigen Büsche und hockte sich hin. Er nahm die Scheide von seinem Rücken, schob das Schwert hinein, setzte den Rucksack auf und hing das Schwert dann nur über die rechte Schulter. Mit schwerem Atem schaute er durch das bunt werdende Laub zu seinem Haus. Die Lichter brannten fast überall und ein dicker Kloß setzte sich in seinem Hals fest, als er daran dachte, dass er nie wieder dort wohnen würde. Andererseits wollte er das auch gar nicht mehr wirklich. Wahrscheinlich könnte er niemals wieder dort in Ruhe schlafen, ohne auf jedem Teppich die Leichen zu sehen, selbst wenn sie dort gar nicht mehr liegen würden. Er wollte grade weiter durch die Büsche kriechen, als er stutzte. Ihm kam wieder Roswita in den Sinn und Tränen sammelten sich in seinen Augen. Es fühlte sich komisch an, dass er sie dort liegen lassen musste. So vollkommen ungeschützt. Für einen Moment fragte er sich, ob die Infizierten nur lebendiges, oder auch totes Menschenfleisch aßen. Er musste den Kopf schütteln, um den Gedanken zu verdrängen. Er hoffte, dass sie dort in Ruhe gelassen wird, solange er weg war.
„Ich komm bald wieder und beerdige dich ordentlich, Roswita…“, murmelte er zu sich selbst und wollte die Hand zu einem Abschiedsgruß heben, ließ es auf halbem Weg nach oben aber bleiben, als ihm einfiel, dass sie ihn nicht sehen konnte. Langsam ließ er die Hand sinken, wischte sich mit dem Ärmel der anderen Hand die Tränen weg, zog die Nase hoch und huschte dann durch die Büsche. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, aber früher oder später würde ihm schon irgendwas einfallen. Solange musste er einfach weiter laufen.
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