Die ersten Häuser sahen schlimmer aus als die meisten Häuser in Portland. Alle Scheiben waren eingeschlagen, Wände hatten riesige Löcher, die teilweise mit Brettern zugenagelt wurden. Dachschindeln waren von den Dächern gerutscht und lagen überall auf dem Boden herum, genauso wie diverse Möbel. Obwohl alles wie auf einer Müllhalde aussah, gab es keine Anzeichen von Toten. Selbst in Portland sah er mehr Überreste herumliegen, obwohl dort darauf geachtet wurde, dass alle Toten möglichst schnell verschwinden, damit keine Krankheiten grassierten, mit denen sich die letzten Überlebenden anstecken könnten. Doch hier war nichts und als Alex unbewusst die Nase in die Luft streckte, bemerkte er, dass die Luft hier auch ganz anders war. Frischer. Frei von Tod und Verwesung. Könnt mich dran gewöhnen…, dachte er und schaute zur Bucht. Der Ozean war sicher der Hauptgrund, warum die Luft hier so angenehm war. Und natürlich die nicht vorhandenen Leichenreste. Nach einer Weile begann er sich nach hohen Gebäuden umzusehen, wo er die Decken und Westen aufhängen konnte entdeckte aber nichts. Die Häuser hier waren beinah alle gleich hoch. Er schaute auf das Navi und sah sich dann wieder um. Er war hier ziemlich dicht an der Küste und da war es wohl egal, wie hoch die Gebäude waren. Selbst bei drei Etagen konnten die anderen dann noch das Zeichen sehen, also hatte er freie Wahl. Auf dem Navi entdeckte er eine Schule und bog in die Straße ein, die dort hin führte. Es dauerte nicht lang, bis er sie sah. Ein großes, ehemals weißes Gebäude im klassizistischen Baustil, mit Sockel und Attika aber auch nicht höher als vier Etagen. Alex schaute zum Dach hoch und entdeckte einige kleine Bäumchen, die darauf wuchsen. Ohne zu zögern kletterte er in das nächstgelegene Fenster, dessen Scheibe schon seit langer Zeit heraus geschlagen wurde und befand sich mitten in einem alten Klassenzimmer. Die Tische standen kreuz und quer herum, waren mit einer meterdicken Staubschicht überzogen und hier und da wuchsen einige Pflanzen. An wenigen Tischen standen noch Rucksäcke und Ranzen, die von den Kindern offenbar Hals über Kopf zurück gelassen wurden. Alex versuchte sich zu erinnern, als die Pandemie in Portland auftauchte. Er glaubte, dass es am Wochenende passierte und wunderte sich kurz, ob die Schüler an den Wochenende hier in der Schule sein würden. Scheiß drauf…, dachte er und verließ den deprimierenden Klassenraum. An seine eigene Schulzeit konnte er sich kaum noch erinnern, dennoch löste die verwahrloste Schule ein beklemmendes Gefühl in ihm aus. Ein Gefühl, das er schnell wieder los werden wollte. Er ging schleunigst die Stufen hinauf und jeder seiner Schritte hallte erschreckend laut wieder. Wenn Mutierte in diesem Gebäude gewesen wären, hätten sie ihn schon längst bemerkt und hätten sich an seine Fersen geheftet. Doch auch hier war nichts von denen zu hören. Allerdings würde er jetzt liebend gern ein paar von den Beißern sehen, denn diese Geisterstadt jagte ihm einen unangenehmen Schauer den Rücken herunter. In der obersten Etage stand Alex plötzlich vor einem Trümmerhaufen, der einmal das Dach darstellte. Vorsichtig kletterte er hinauf, hievte sich auf die Attika, die hoffentlich noch etwas stabiler war als die Dachkonstruktion. Er balancierte zu einem der Bäume, die dort wuchsen, ging vorsichtig mit großen Schritten über das Dach, kletterte den relativ dünnen Stamm hinauf und brach die oberen Äste ab, damit die anderen die Decke ordentlich sehen konnten und diese nicht durch das Laub verdeckt wurde. Aus der Tüte holte er sich schließlich eine der Decken raus, knotete sie an zwei Ecken an einen mittlerweile kahlen Ast, kletterte wieder runter und sprang den letzten halben Meter runter, was er allerdings sofort bereute. Das Dach gab ein unschönes Geräusch von sich und bog sich durch Alex' Gewicht etwas durch.
„Ups…“, platzte ihm raus, lief zum Schutthaufen und rutschte regelrecht runter, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Als er die Treppe runter ging, nahm er sich wieder das Funkgerät. „Erste Decke hängt. Könnt ihr die sehen?“ Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete.
„Wo bist du?“, fragte Tyler dann, statt zu antworten. Alex schaute auf das Navi und zoomte etwas weg, um seinen Standpunkt in der gesamten Stadt zu erkennen.
„Noch ziemlich weit im Westen.“, antwortete er dann und zoomte wieder ran.
„Wir sehen sie.“, antwortete Tyler dann. „Weiter bist du noch nicht?“
„Halt die Klappe.“, antwortete Alex nur und steckte das Funkgerät wieder weg. Unzufriedener Pisser…, dachte er und hörte plötzlich ein Kichern.
„War nur Spaß.“, meinte Tyler dann und Alex konnte sich sein dämliches Grinsen vorstellen. Kopfschüttelnd ging er die Straße runter und bog zum Highway ab, auf dem er die ganze Zeit unterwegs war. Diesem folgte er weiter in das Innere San Franciscos.
Nach einigen Stunden durch die erdrückende Stille wandern war er inzwischen um drei Rettungsdecken erleichtert worden und noch immer war keine Spur von Mutierten zu sehen. Die Läden, an denen er vorbei kam, schienen bis zum letzten Krümel geplündert zu sein und mittlerweile glaubte er nicht mehr daran, dass sie hier großartig irgendwas mitnehmen konnten. Wenn sie Glück hätten, würden sie vielleicht noch eine Rolle Klebeband-Pflaster finden und vielleicht noch eine oder zwei Dosen mit Spinat, weil niemand dieses Grünzeug mitnehmen wollte. Er schaute sich grade nach einem weiteren hohen Gebäude um, an dem er eine Decke hängen konnte, als von rechts plötzlich ein markerschütterndes Brüllen zu hören war. Ohne Zweifel das Gebrüll eines Keifers. Alex hatte sich so sehr erschrocken, dass er herumfuhr. Sein Herz schlug schmerzhaft in seiner Brust und ihm blieb kurz die Luft weg. Scheiße…, dachte er und lief in entgegensetzte Richtung. Er war nicht scharf auf eine Begegnung, also eilte er zu dem nächstgelegenen Gebäude, das hoch genug für eine Markierung war. Außerdem konnte er sich von dort einen Überblick verschaffen, ob irgendwo in der Nähe Mutierte waren. Er war völlig erschöpft, als er auf dem Dach ankam. Mit einigen tiefen Atemzügen versuchte er seine Atmung zu beruhigen, nahm sein Gewehr und schaute durch das Visier auf die leeren Straßen runter. In der Nähe, wo er stand, als der Keifer brüllte, sah er ihn schließlich. Offenbar war es ein Weibchen, denn es hatte das Gesicht sehr nah auf der Straße, um seine Fährte zu erschnüffeln.
„Vergiss es, Fräulein…“, murmelte er, als der Mutierte in seine Richtung ging. Er drückte den Abzug und kurz darauf fiel der Keifer tot um. Alex wartete noch einige Minuten und beobachtete die Straßen rund herum, sah und hörte aber nichts weiter. Bevor er eine Decke an die Antenne hing, schaute er sich auch an den anderen Seiten des Gebäudes um, ob dort vielleicht irgendwo noch Mutierte rum lungerten, doch auch hier war nichts. Dann ging er zur Antenne, nahm eine Decke aus dem Beutel, der an seinem Rucksack baumelte und entfaltete sie. Er hatte grade eine Ecke befestigt, als plötzlich noch ein Brüllen zu hören war. Es war weiter weg als der erste Schrei, den er gehört hatte, dennoch löste er den Knoten wieder und lief zum Rand des Daches. Ihm stockte der Atem, als er mit bloßem Auge die Masse sah, die sich langsam in seine Richtung bewegte. Er hatte bisher nie mehr als ein Dutzend Keifer gesehen, doch hier waren es mehr. Weit mehr. Fuck…, dachte er nur. Er zog nicht mal in Erwägung, sie alle abzuschießen, denn dafür würde nicht mal die Munition reichen, die noch auf dem Truck war. Er musste hier weg, und zwar schnell. Eilig stopfte er die Decke zurück in den Beutel, fischte eine Weste heraus, faltete sie auseinander und knotete sie an der Antenne fest. Dann lief er zurück in das Innere des Gebäudes und machte sich aus dem Staub, bevor die Mutierten zu nah kamen.
„Alex hat 'ne Warnweste aufgehängt!“, rief Wodka zu Tyler, Rachel und Carlos rüber, die grade Skat spielten. Tyler ließ seine Karten abrupt fallen, sprang von seinem Platz auf, lief zu dem Russen rüber, kletterte auf den Truck und nahm Wodka das Fernglas weg. Er suchte kurz die Stadt ab und sah schließlich die Weste, die sich im seichten Wind kaum bewegte. „Sollen wir ihm helfen?“ Tyler schwieg einen Moment und überlegte.
„Nein…“, antwortete er schließlich und versuchte, zwischen den Häusern irgendwelche Bewegungen zu erkennen. „Solang er uns nicht anfunkt, bleiben wir hier. Wir haben keine Ahnung, wie viele Mutierte da sind und es wäre dumm, wenn wir jetzt hinfahren.“
„Vielleicht hat er die Weste nur aus Versehen mit 'ner Decke verwechselt.“, meinte Carlos und schaute zu den beiden Männern hoch.
„Bezweifle ich.“, antwortete Tyler und gab Wodka das Fernglas zurück. „Behalt die Gegend um die Weste herum im Auge. Sobald du Mutierte siehst, sag Bescheid.“ Der Russe nickte und beobachtete die Stadt weiterhin durch das Fernglas. Tyler sprang vom Truck, fasste sich aber an die frische Wunde, als er aufstand und zu den anderen beiden ging. Rachel schaute ihn besorgt an, doch er versuchte ihren Blick zu ignorieren. „Deinem Bruder wird schon nichts passieren.“, sagte er schließlich und setzte sich wieder an seinen Platz.
„Das weiß ich.“, antwortete sie dann erschreckend ernst und Tyler schaute sie verwirrt an.
„Was soll dann dieser Blick?“
„Ich mach mir Sorgen um deine Verletzung.“
„Pff…“, machte Tyler amüsiert. „Ich hatte schon Schlimmere. Kein Grund, deswegen zu gucken, als würde ich gleich den Löffel abgeben.“ Er sammelte seine Karten wieder auf und schaute die anderen beiden an. „Wehe ihr habt mir in die Karten geglotzt…“ Carlos lachte kurz, doch Rachels Blick blieb unverändert.
Alex lief derweil grade aus dem Gebäude raus, blickte kurz in die Richtung, in der die Mutierten waren und lief dann weiter in entgegengesetzte Richtung. Diese Dinger waren sicherlich total ausgehungert und Alex fühlte sich momentan wie ein Lamm in einem Wolfsrudel. Er fragte sich, wie lang die Biester schon kein Menschenfleisch mehr zwischen die Kiefer bekommen hatten. Während er weiter lief fiel ihm ein, dass er ja noch ein paar Köder bei sich hatte. Er verwahrte sie immer in einer Dose in seinem Rucksack auf, da sie einen bestialischen Gestank verströmten. Die Dose hielt den Geruch zum Großteil bei sich, doch wahrscheinlich würden die weiblichen Keifer die Köder trotzdem riechen. Schmackhafte Köder und ein schmackhafter Mann. Kein Wunder, dass sich so viele Keifer in seine Richtung bewegten. Während des Laufens suchte er die Dose mit den Ködern raus, lief in ein Gebäude zu seiner Linken und versteckte dort einen der Köder in einem Loch in der Wand. Dann beeilte er sich aus dem Gebäude zu kommen. Mit einem prüfenden Blick schaute er in die Richtung, aus der er kam und stellte erleichtert fest, dass die Mutierten noch nicht in Sichtweite waren. Dennoch wollte er nicht langsamer werden, auch wenn er schon außer Atem war. Es war ihm zu riskant sein Tempo zu drosseln. Im Gegenteil, er wurde etwas schneller. Er musste um jeden Preis die Mutierten los werden. Auf dem Weg durch die Stadt versteckte er einige weitere Köder, die er möglichst nicht in einer Linie platzierte. Ansonsten wären sie eher wie eine Spur aus Brotkrumen und die Keifer bräuchten ihr nur zu folgen, bis sie am Ende das Highlight ihres Mahls erreichten. Doch Alex war nicht so dumm gewesen, lief regelrecht im Zickzack durch die Stadt und versteckte die Köder meist weit ab von seiner Strecke. Nach dem letzten Köder holte er das Navi aus seiner Westentasche und stellte genervt fest, dass der Akku fast leer war. Er zoomte weg und schaute sich den Abstand zur letzten Markierung an, dann schaute er sich die Gebäude in der Nähe an. Sie wurden noch höher, daher vermutete er, dass er langsam im Herzen San Franciscos sein musste. Als er wieder auf das Navi schaute, schaltete es sich aus und fluchend steckte er es zurück in die Tasche, machte den Reißverschluss zu und steuerte auf ein hohes Gebäude zu, an dem er eine weitere Markierung befestigen wollte. Doch als er grade um eine Häuserecke bog, blieb er abrupt stehen. Sein Atem ging schnell und stoßweise, als wäre er grade einen Marathon gelaufen. Doch das war ihm grade egal, denn vor ihm standen einige Flitzer. Sie wandten sich Alex zu, als dieser grade zum Stehen kam.
Fuck, die haben mir grade noch gefehlt., dachte er genervt. Keifer schön und gut, vor denen konnte er wenigstens noch davon laufen. Doch ein Flitzer würde ihn schneller einholen, als er einen Gedanken zu Ende führen konnte. Und das, obwohl Alex nicht zu den langsamen Denkern gehörte.
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