„Und Sie sind sich sicher, dass Sie uns bei unserem Problem helfen können?“, fragte Sarah Mersen den alten Mann. Dieser saß ihre gegenüber in dem abgewetzten Sessel und nippte an dem dünnem Tee in der ebenso geschmacklosen Tasse. Seine andere Hand lag erst auf seinem schwarzen Schlapphut auf seinem Schoß und strich nun durch seinen langen, grauen Bart, bevor er die Augen verdrehte. Mit leicht gereizter Stimme sprach er: „Ja, Frau Mersen, ich kann Ihnen helfen. Das habe ich nun schon mehrfach gesagt, und daran wird sich nichts ändern, egal wie oft sie mich danach fragen!“.
„Entschuldigen Sie bitte, Herr Born. Aber die ganze Situation ist sehr fordernd für mich und meinen Mann.“ Sarah Mersen sank in ihren Sessel zurück, schloss die Augen und seufzte tief.
Olaf Born hätte am liebsten Hut und Gehstock genommen und wäre gegangen. Die unscheinbare Frau Mersen ging ihm auf die Nerven, und ihr Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Wiesel hatte, war kein bisschen besser. Zum Glück war er im Moment irgendwo im Haus verschwunden, wollte nach Gebäck suchen oder nach Kuchen. Olaf war es egal, er würde bleiben. Das Problem der Eheleute Mersen, oder genauer gesagt das ihres Hauses, war viel zu interessant um ihm nicht nachzugehen.
Olaf Born erinnerte sich gar nicht mehr genau, wie er auf das Problem aufmerksam geworden war, vermutlich hatte er irgendwo aufgeschnappt, beim Einkauf von Zubehör für sein „Handwerk“ oder über einen Bekannten eines Bekannten. Wo auch immer es war, es hatte schnell sein Interesse geweckt, was nicht oft vorkam. Die Mersens wohnten seit ungefähr einem Jahr in einem alten Stadthaus, welches sie von einer Tante oder einem Großvater oder wem auch immer geerbt hatten. Kurz nachdem sie eingezogen waren, begannen sich ungewöhnliche und auch beunruhigende Dinge zu ereignen.
Die Beschreibungen der Ereignisse, zumindest so wie sie ihm zugetragen wurden, waren so vielfältig und teilweise so extrem ungewöhnlich, dass Olaf nach kurzer Überlegung beschloss, sich die Situation näher anzusehen.
Und so war er am Morgen eines sonnigen Frühlingstags, der im erstaunlichen Gegensatz zu seiner Grundstimmung und seinem düsteren Aussehen stand, an der Tür von Familie Mersen angekommen. Nachdem er sich knapp den Eheleuten vorgestellt hatte und den Grund seiner Anwesenheit erklärt hatte, fanden sich alle drei im Salon des alten Hauses wieder.
Nachdem Herr Mersen von seiner erfolglosen Suche nach Gebäck in den Salon zurückgekehrt war, nahm Olaf Born das Wort:
„Also gut, wie ich Ihnen bereits erklärt habe, werde ich die nächsten zwei Tage und Nächte die Dinge hier im Haus beobachten und die Ursachen entfernen. Sie zwei lassen sich in dieser Zeit hier nicht blicken.“
„Aber woher sollen wir wissen ob Sie Erfolg hatten?“, fragte Herr Mersen mit zitternder Stimme.
„Das werden Sie schon erfahren. Und jetzt packen Sie Ihren Kram und lassen Sie mich arbeiten“, antwortete Olaf ungehalten und wuchtete dabei seinen Handkoffer auf den besorgniserregend knackenden Wohnzimmertisch.
Frau Mersen wollte noch etwas sagen, aber Olaf schenkte ihnen keine Beachtung mehr, sodass sie nur mit den Schultern zuckte, sich ihren Mann schnappte und verschwand.
Nach kurzer Zeit hörte Olaf die Haustür ins Schloss fallen, woraufhin er sich etwas entspannte und in den Sessel fallen ließ. Endlich hatte er Ruhe, jetzt wo die nervigen Eheleute endlich weg waren. Bis Sonnenuntergang war noch genug Zeit, und Olaf Born wollte noch einmal in Ruhe über alles Nachdenken, was die Mersens ihm über die Geschehnisse im Haus erzählt hatten.
Es begann, kurz nachdem die Mersens in das Haus eingezogen waren, mit eigenartigen Geräuschen in der Nacht. Zuerst klang es nur wie schlurfende Schritte, aber nach ein paar Nächten kamen dann ein leises Stöhnen und Zischen dazu, manchmal auch ein unverständliches Gemurmel. Innerhalb kurzer Zeit kamen immer neue Klänge dazu: einmal hörte es sich an, als würden Fleischstücke auf ein Brett geschlagen, ein anderes Mal ein Reißen und Schmatzen, was beunruhigend organisch klang.
Doch die Geräusche waren noch nicht alles. Nach ein paar Wochen in dem Haus traten die ersten visuellen Phänomene auf. Blutflecke unbekannter Herkunft, an teils nur schwer oder gar nicht erreichbaren Stellen wie der Wohnzimmerdecke oder an den hohen Erkerfenstern. Unbekannte Symbole, scheinbar in Möbel, Wände oder Fußböden eingeritzt. Fußspuren in den Fluren, die jedoch keinem bekannten Lebewesen zugeordnet werden konnten.
Nach ein paar Monaten in dem Haus verschwanden plötzlich Gegenstände, manche tauchten an völlig anderen Stellen wieder auf, manche gar nicht mehr. Möbelstücke veränderten über Nacht die Position. Dann wurde es noch seltsamer. Die Möbel begannen sich selbst zu verändern. Ein normaler Küchenstuhl hatte von heute auf morgen plötzlich drei mit seltsamen Spiralmustern geschmückte Beine statt vorher vier einfache glatte. Türen sahen plötzlich seltsam verdreht aus. Symbole und Spiralmuster erschienen auf nahezu allen glatten Flächen. Manche verschwanden auch wieder, manche schienen über die Möbel zu wandern.
In der Nacht spürten die Eheleute auch immer stärker eine Art Schwermut, ein drückendes Gefühl auf der Seele, welches immer mehr zunahm. Es war ein Gefühl von nahendem Unheil, ein Gefühl. das ihren Lebenswillen erschütterte.
Der letztendliche Auslöser dafür Hilfe zu hohlen, trat dann erst vor kurzer Zeit auf. An mehreren Stellen im Haus, in Fluren, Zimmern und am Zugang zum Dachboden, fanden die Mersens Reste von Lebewesen. Zuerst dachten sie, es wären Überreste von Mäusen, die ihr Kater erbeutet hatte. Doch die tierischen Überreste wurden immer verstörender. Blutige Innereien, wie an einer Schnur langgezogen, abgenagte Knochen, Hautfetzen. Das Schlimmste daran war, dass, obwohl es nur einzelne Teile waren, es offensichtlich war, dass sie nicht nur von kleinen Nagern stammen konnte. Die Überreste waren dafür zu groß und ganz eindeutig von mehreren unterschiedlichen Wesen. Und ihr Kater war auch plötzlich verschwunden.
All das war zu viel für die Mersens, sie verließen in Panik das Haus. Nach der Kontaktaufnahme mit Olaf Born waren sie erst heute im hellen Sonnenschein zurückgekehrt, um ihm alles zu zeigen. Herrn Mersen hatte es anscheinend mehr mitgenommen, sonst hätte er wohl kaum nach Wochen der Abwesenheit nach Keksen gesucht, dachte Olaf, ließ diesen Gedanken aber schnell wieder fallen.
Nun waren die auftretenden Phänomene einzeln nichts, was Olaf bisher noch nicht gesehen hatte. Nur halt nicht zusammen und an einem Ort! Wer oder was steckte dahinter? Das wollte er heute Nacht herausfinden.
Olaf öffnete seinen Koffer, nahm seine Isolierkanne heraus und goss sich eine Tasse anständigen Tee ein. In dem Koffer befanden sich hauptsächlich Getränke, ein paar Knabbereien und ein wenig Lektüre, falls ihm beim Warten auf Ereignisse langweilig werden würde. Hilfsmittel für sein „Handwerk“ befanden sich keine in dem Koffer, auch wenn die Leute das oft erwarteten. Alles was er dazu brauchte trug er direkt bei oder in sich.
Es fing langsam an zu dämmern, Olaf las in „Über die Wesenheiten der anderen Sphären“, um eine Erklärung für die Merkwürdigkeiten in dem alten Haus zu finden, als eine spürbare Veränderung in der Atmosphäre des großen Wohnzimmers einsetzte. Die Temperatur schien zu sinken, es wurde immer bedrückender im Raum, und aus nicht zu bestimmender Richtung waren leise, unverständliche Laute zu hören. Olaf setzte sich langsam auf, legte das Buch zur Seite, fokussierte seine Sinne und lauschte auf die Geräusche. Allmählich begann er eine andersartige Macht zu spüren, doch konnte er sie überhaupt nicht einordnen. Die Quelle der Macht lag in einem anderen Teil des Hauses, hier im Wohnzimmer spürte er nur schwächere Auswirkungen dieser unbekannten Kraft.
Er erhob sich aus dem Sessel, nahm seinen Gehstock und begab sich in Richtung Flur, auf der Suche nach dem Ursprung der Signale, die er gespürt hatte.
Er folgte dem Flur in Richtung Kellertreppe, da viele Wesenheiten einen Hang zu dunklen und feuchten Kellern hatten. Zu seiner Überraschung aber spürte er die fremdartige Kraft schwinden, umso mehr er sich dem Keller näherte. Die spürbaren Kraftlinien deuteten eher nach oben. Als er langsam die Treppen hochstieg, manifestierten sich immer mehr Anzeichen der fremden Macht. Auf Treppengeländer und Wänden erschienen fremdartige Zeichen, und umso näher er dem Dachboden kam, umso häufiger sah er ein spiralförmiges Symbol. Er ignorierte die sich verdrehenden Möbel und die immer mehr auftauchenden sterblichen Überreste verschiedenster Wesenheiten und hielt zielstrebig auf die Tür zum Dachboden zu. Die Tür war übersät mit blutigen Spiralen und an ihren Kanten bildete sich Raureif. Olaf hatte in seinem langen Leben schon viel erlebt, aber selbst in ihm begann sich ein ungutes Gefühl auszubreiten. Er hielt kurz inne, sammelte seine Gedanken und drängte die aufsteigende Angst zurück. Er richtete seinen Spazierstock, welcher nun seine wahre Form angenommen hatte, auf die Tür und murmelte Worte der Macht, wodurch die Tür sich langsam öffnete. Dann betrat er den Dachboden.
Der große Dachboden des alten Hauses war in ein unheimliches Zwielicht gehüllt. Nebelschwaden zogen über den Boden, die Balken waren mit Eis überzogen, die Luft war unnatürlich kalt. Überall waren Spiralmuster zu sehen, doch nun bewegten sie sich und leuchteten in fahlem Licht. Über den ganzen Boden verteilt lagen Leichenteile, manche tierisch, manche unmöglich zu beschreiben. Langsam wagte Olaf sich vor, immer vorsichtiger werdend, denn nun spürte er eine Aura, die nichts als Tot und Verderben aussandte. Und dann erblickte er am anderen Ende des Dachbodens die Quelle dieser Aura, die Ursache für all die Phänomene in dem alten Haus.
Gut zwei Meter groß, Arme und Beine wie alte Äste eines Baumes, die Hände und Füße wie Wurzelwerk, die Haut aufgerissen und verrottet. Teilweise lagen innere Organe und Knochen frei, Hautfetzen dehnten sich, unnatürliche Flüssigkeiten ergossen sich über das Wesen. Der Kopf kugelförmig und mit einem riesigen, mit Zähnen angefüllten Schlund, statt Augen eine pulsierende Spirale, wie sie auch über den ganzen Körper verteilt zu sehen waren. Viel hatte Olaf Born über so eine Kreatur gehört, doch in all den Jahrhunderten seiner Existenz hatte er sie niemals selbst gesehen oder jemanden persönlich gekannt der ihr begegnet war. Vor ihm stand eine der mysteriösesten und gefährlichsten Wesenheiten der magischen Welt.
Vor ihm stand eine Spiralkönigin!
Sie war die Ursache für die seltsamen Phänomene in dem Haus, davon war Olaf überzeugt, auch wenn ihm die genauen Zusammenhänge unklar blieben. Aber das was er über die Kräfte der Spiralkönigin gehört und gelesen hatte, passte durchaus zu den Geschehnissen. Über die Beweggründe einer Spiralkönigin wusste niemand genaues, aber es war bekannt, dass sie sich von negativen Emotionen andere Lebewesen ernährte und diese aktiv verstärkte. Zumindest eine Zeit lang, denn wenn die Spiralkönigin das Leben in ihrem Einflussbereich mit Negativität und Verzweiflung gesättigt hatte, standen ab da die Menschen und Tiere selbst auf der Speisekarte. Der Hunger der Spiralkönigin konnte solche Ausmaße annehmen, dass Legenden zufolge ganze Städte oder sogar ganze Kulturen von einer einzigen ausgelöscht worden seien. Die Spiralkönigin stellte damit nicht nur eine Bedrohung für diese Haus dar, sondern war eine konkrete Gefahr für die gesamte Stadt und darüber hinaus.
Olaf Born stand damit der Gefahr direkt gegenüber. Aber auch wenn ihm die Bewohner des Hauses und die meisten Menschen grundsätzlich nichts bedeuteten, so konnte sogar er nicht zulassen, dass diese Wesenheit sich ungestört über die Stadt hermachte.
Während er über all das nachdachte, richtete die Spiralkönigin plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Er spürte eine lähmende Kälte, Verzweiflung flutete seinen Geist. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er sich geistig gegen die Kreatur abschirmen. Selten zuvor hatte er eine solche Macht erlebt. Er hob seinen Stab und versuchte mit einem Zauber nach dem Wesen zu greifen, doch werte dieses diesen Versuch mit einem Aufleuchten der Spiralen auf seinem Körper einfach ab. Olaf versuchte noch andere Sprüche und Beschwörungen, aber die Kreatur wehrte sie ohne große Mühe ab. Olaf hingegen spürte, wie die Spiralkönigin sich immer weiter in seinen Geist drängte, sich an seiner Kraft labte, seine Angst schürte. Er würde seinen Widerstand gegen die aufsteigende Verzweiflung nicht mehr lange aufrechterhalten können.
Angestrengt dachte er nach, was er noch tun könnte, selten zuvor war er in solche Bedrängnis geraten. Langsam kam ihm die Kreatur näher, die sie begleitenden Spiralen waren jetzt überall, auf allen Flächen des Dachboden und kesselten Olaf langsam ein. Doch plötzlich kam ihm eine Idee, aus der Verzweiflung geboren. Wenn sie erfolgreich wäre, könnte sie noch große Schwierigkeiten für ihn bedeuten, aber die Alternative war der sichere Tod.
Er schloss die Augen, konzentrierte sich noch einmal, was ihm im Angesicht der drohenden Gefahr unheimlich schwer fiel. Er mobilisierte seine letzten Kräfte und öffnete genau unter der Spiralkönigin ein Portal. Diese stieß einen markerschütternden Schrei aus, und wollte sich endgültig auf Olaf stürzen, als sie verstand, was er vorhatte. Doch er war bereits zu spät. Die magischen Winde des Portals zerrten an der Spiralkönigin, und obwohl sie sich verzweifelt wehrte, wurde sie letztendlich hinein gezogen. Sobald sie verschwunden war, schloss Olaf das Portal und brach schweißgebadet zusammen.
Das Zwielicht, der Nebel, das Eis und die Symbole waren verschwunden, genau wie ihre Erzeugerin. Das Haus war gerettet, genauso wie seine Bewohner und die Stadt in der es stand. Olaf Born lag schwer atmend auf dem Boden. Langsam kam er wieder zu Kräften, und ihm wurde klar, dass er dem Tod so nahe gewesen war wie seit hunderten von Jahren nicht mehr.
Als seine Gedanken wieder klar wurden, ging ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, wohin das Portal die Spiralkönigin geschickt hatte und dass ihr Erscheinen an jenen Ort unter Umständen tragische Konsequenzen haben würde.
Doch dann kam ihm eine fatale Erkenntnis!. Er hatte sich eine Spiralkönigin zur Feindin gemacht! Von seiner Seele hatte sie gekostet, nun würde sie auch den Rest wollen! Rastlos würde sie ihn suchen, und wenn die Spiralkönigin Olaf Born finden sollte, würde sie seinen sterblichen Leib und seine unsterbliche Seele verschlingen!
Olaf blieb noch eine lange Zeit auf dem Dachboden liegen, und dachte mit Sorgen an die nahe Zukunft. An die Rückkehr der Spiralkönigin.
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