Es war einmal ein kleines Dorf in einem kleinen Land, und an einem ganz normalen Nachmittag zog ein schwerer Sturm auf. Die Dorfbewohner zogen sich in ihre Häuser zurück, um dort den Sturm abzuwarten.
Plötzlich hörten sie Lärm und Geschrei auf der Hauptstraße. Die Ursache für den Tumult waren der Müller und seine drei Gehilfen, die im strömenden Regen angelaufen kamen.
Der Müller sagte, ein schreckliches Ungeheuer hatte die Mühle angegriffen und ihn und seine Männer in die Flucht geschlagen. Dies beunruhigte die Dorfbewohner sehr, und sie berieten was man tun könnte. Irgendwer musste zur Mühle gehen und das Ungeheuer unschädlich machen, denn alle fürchteten, dass das Wesen auch das Dorf angreifen könnte. Alle sahen sich ängstlich an, doch niemand traute sich zur Mühle zu gehen, schon gar nicht in dem Sturm.
„Dann geh’ ich halt, hab eh nichts anderes vor bei diesem Mistwetter“, ertönte eine fröhliche Stimme aus ihrer Mitte. Die Stimme gehörte zu Oma Nellie, einer kleinen alten Dame, die einen kleinen Gemüseladen hatte. Die Dorfbewohner versuchten sie zu überreden, nicht zu gehen, doch Oma Nellie ließ sich nicht davon abbringen. Die anderen Leute machten sich zwar Sorgen um Oma, sie waren aber trotzdem nicht mutig genug sie zu begleiten.
Und so band Nellie ihr Kopftuch fester, schloss ihren Mantel und machte sich auf den Weg zur alten Mühle auf dem Hügel.
Nach einem kurzen Fußmarsch durch Regen und Wind erreichte Nellie die alte Mühle. Die Eingangstür schaukelte im Wind, im Inneren waren alle Lichter ausgegangen und keine Spur von Leben war zu sehen.
Im Inneren der Mühle war es stockdunkel, überall lagen Mehlsäcke und andere kaum zu erkennende Dinge herum. Hier und da ließen sich Teile der Mühle und alte Mühlsteine erahnen. Oma ging langsam ins Dunkle hinein, als sie plötzlich ein Geräusch aus dem hinteren Teil der Mühle hörte. Da war ein Rascheln und ein leises Atemgeräusch, und plötzlich sah Oma zwei große gelbe Augen aufleuchten.
Nellie wartete kurz ab und ging dann langsam weiter in Richtung der Augen, und sprach mit ruhiger Stimme: „Hab’ keine Angst, ich tu dir nichts.“
Die Augen blickten Oma weiter an, und nun sah sie ganz deutlich die Angst darin. In diesem Moment blitzte und donnerte es gewaltig und die Augen verschwanden in der Dunkelheit. Vorsichtig ging Oma in die Richtung in der sie die Augen gesehen hatte, mehrmals einen Blitz abwartend, damit sie wenigsten kurz etwas sehen konnte. Sie kam an eine Nische hinter irgendwelchen mechanischen Teilen der Mühle, und dort sah sie bei einem weiteren Blitz das Wesen, dessen Augen sie gesehen hatte. Es donnerte erneut, das Wesen gab ein erschrockenes Geräusch von sich und versuchte noch weiter in die Nische zu kriechen. Soweit Oma Nellie bei dem kurzen Licht der Blitze erkennen konnte, schien das Wesen eine Art große Katze mit langen Fell zu sein. Mehr konnte Oma nicht erkennen, sie bemerkte aber sofort, dass das arme Ding schreckliche Angst hatte. Sie legte ihr Kopftuch und ihren Mantel ab, hängte diese zum Trocknen über einen Balken, und näherte sich dann vorsichtig dem Wesen.
„Du musst keine Angst haben, ich bleib bei dir, die ganze Nacht, bis der Sturm vorüber ist.“ Langsam kamen die großen Augen wieder zum Vorschein, von Angst erfüllt, aber das Wesen zitterte nun etwas weniger und ließ Oma an sich heran. Nellie streichelte den Kopf des Tiers, was es merklich beruhigte und setzte sich in der Nische so neben das Wesen, dass dieses seinen Kopf neben sie legen konnte. Bei jedem Blitz und bei jedem Donner zuckte das Wesen zusammen, doch Oma beruhigte es jedes mal, streichelte seinen Kopf und sprach ruhige Worte.
So saß sie die ganze Nacht bei dem armen Wesen, bis am nächsten Morgen der Regen und das Gewitter nachließ. Draußen wurde es langsam hell, der Sturm war abgezogen, und das Tier schlief friedlich neben Oma. Wo es nun heller wurde konnte Nellie einen besseren blick auf das Wesen werfen. Es war ungefähr so groß wie ein Pony, hatte langes, schwarz rot gestreiftes Fell, zwei Schwänze die jeweils in eine große Quaste ausliefen und einen katzenartigen Kopf. Der Kopf hatte zwei große spitze Ohren, ein Maul voller kleiner spitzer Zähne, und zwei große Augen, die sich jetzt langsam öffneten als das Wesen erwachte. Es sah Oma kurz überrascht an, entspannte sich dann aber und kuschelte sich schnurrend an Nellie an.
Oma kraulte das Wesen hinter den Ohren und dachte sich lächelnd, dass diese putzige Ding vier erwachsene Männer in die Flucht geschlagen hatte. Sie lachte dann kurz auf und sagte zu dem Tier: „Komm, mein Kleiner, der Sturm ist vorbei, lass uns ins Dorf zurückgehen.“ Das Wesen zögerte kurz, als Oma aufstand und ihren Mantel und das Kopftuch nahm, folgte ihr dann aber aus der Mühle.
Die Wolken hatten sich verzogen, die Sonne ging langsam auf und es schien ein schöner Tag zu werden. Oma Nellie nahm fröhlich summend den Weg zum Dorf, und nach einem kurzen Moment kam das angebliche Ungeheuer hinterher.
Die Wärme der Sonne genießend fing Oma leise an ein Lied zu singen und langsam entspannte sich das Wesen. Es versuchte sich nicht mehr hinter der viel kleineren Nellie zu verstecken, sonder lief nun mutig neben ihr her, und nach kurzer Zeit begann es sogar herumzutollen und ein Stück den Weg voraus zu laufen.
Nach einer Zeit kam langsam das Dorf in Sicht, und nach einer kurzen Rast machten sich Oma und ihr Begleiter auf den restlichen Weg.
Sie hatten gerade den Eingang des Dorfes erreicht, als mehrere mit Mistgabeln und Fackeln bewaffnete Dorfbewohner hervorsprangen, und Oma und das Wesen einkreisten.
„Schnell, Nellie, komm hierher in Sicherheit, wir halten das Ungeheuer auf!“, rief einer der Dorfbewohner, während ein anderer Oma am Arm packte und von dem Wesen wegziehen wollte.
Die Dorfbewohner drängten auf das Wesen ein, als Oma die Hand die sie zog abschüttelte und rief: „Hört sofort auf mit dem Unsinn! Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“ Sie drängelte die Leute an die Seite, ging zu dem verschreckten Wesen und redete sanft mit ihm: „Hab keine Angst, keiner wird dir etwas tun.“ Mit einem Ruck drehte Oma Nellie sich um und Zornesröte stieg ihr ins Gesicht, was dazu führte dass die Dorfbewohner anfingen vor ihr zurückzuweichen.
„Was fällt euch ein dem armen Ding eine solche Angst einzujagen!“, fragte sie in die Runde. Zuerst traute sich niemand zu antworten, doch dann stammelte einer der Männer: „Wir, wir, wir wollten dich doch nur vor dem, dem Monster beschützen, und…..“
„Ihr solltet euch lieber Gedanken machen, wer euch vor mir beschützt!“, schrie Oma ihnen entgegen. „Gestern Nacht hattet ihr Angst vor einem armen Tier, das Schutz in eurer Mühle suchte, aber am helllichten Tag in eurem Dorf seid ihr plötzlich mutig genug, ohne Hintergedanken mit Gewalt gegen es vorzugehen!“ Oma atmete kurz durch, deutete auf das Wesen hinter ihr, und sprach etwas ruhiger: „Seht ihr den nicht, dass es völlig harmlos ist, dass es mehr Angst vor euch hat als ihr vor ihm? Sturm und Gewitter haben es erschreckt, und deshalb wollte es sich irgendwo verstecken. Die Mühle war halt in der Nähe, es wollte niemanden etwas tun!“
Die Dorfbewohner schauten sich beschämt an, sie erkannten, dass Oma Nellie recht hatte. Sie begannen die Mistgabeln wegzulegen und die Fackeln zu löschen. Einer ergriff das Wort: „Du hast recht, Frau Nellie. Es tut uns leid, dass wir so voreilig gehandelt haben. Aber jetzt bleibt noch die Frage, was mir mit dem Tier anfangen?“
„Ist doch ganz einfach“, sagte Nellie jetzt schon wieder fröhlicher. „Es wird einfach hier bei uns im Dorf leben, ich habe noch ein Zimmer hinter meinem Laden frei.“
Und alle Dorfbewohner stimmten diesem Vorschlag zu, und so kam es, dass das Wesen, das gar kein Ungeheuer war, von da an im Dorf lebte. Alle begannen es sehr gern zu haben, es spielte mit den Kindern des Dorfes, und es war sehr fleißig gegen Mäuse und andere Plagen.
Meistens jedoch lag es friedlich schnurrend vor Omas Laden, denn es hatte besonders Nellie sehr lieb gewonnen. Und für viele, viele Jahre lebten die Dorfbewohner und das Wesen friedlich miteinander, und alle waren glücklich.
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