„Wer hat meinen Joghurt gegessen?!“ Dröhnt eine genervte Stimme über den Flur. Schnell setze ich mein Headset auf, um den Eindruck zu machen, ich sei schwer beschäftigt und ignoriere die wütenden Fäuste von Elena an meiner Labor Tür. Sie ist eine der Doktorandinnen aus einem anderen Arbeitskreis auf meinem Flur. Ich mache mir keine Sorgen um die Tür. Sie ist sowieso abgeschlossen, damit so wenig menschliche Störfaktoren wie möglich hier hereinplatzen. Die kleine Glasscheibe an der Tür habe ich mit einem Miniatur-Vorhang zugehängt, damit ich nicht ständig beobachtet werde. Ich wette, mit den Verstößen gegen die Laborauflagen hier könnte ich ein ganzes Buch füllen.
Als ihre Rufe schließlich aufhören, drehe ich mich um und sehe nach Watson. Er kringelt sich entspannt auf dem Sofa, bevor er sich streckt und gähnt. Dann marschiert er zu seinem Napf, den ich hier immer für alle Fälle stehen habe. Ich öffne den Schrankkasten, in dem sein Katzenklo versteckt ist. Nachdem ich das Granulat ausgetauscht habe, klopft es an meiner Tür.
Klopf – klopfklopf – klopf.
Ah, okay. Henrys Klopfzeichen. Die Klopfrituale haben mein Laborleben um ein Vielfaches einfacher gemacht. Außer mir gibt es nur zwei weitere Menschen, die von Watson wissen, und dass er hier ein konstanter Bewohner ist. Der eine ist Henry, und die andere ist unsere flippige Laborassistentin Alani. Sie hat ihr eigenes Klopfzeichen. Aber sie ist gerade im Urlaub auf den Kanaren. Ich öffne meinem Laborkollegen die Tür und setze mich zu Watson auf das Sofa.
„Junge, du sollst nicht immer Elenas Sachen aus dem Kühlschrank holen!“ Schimpft er. „Jedes Mal muss ich den Kopf für dich hinhalten!“
„Ich kauf ihr ein
paar neue.“ Gebe ich geschafft zurück. Ich habe keinen Nerv mit jemandem über
solche Trivialitäten zu diskutieren. Nicht an einem Tag wie heute.
Henry krault Watson hinterm Ohr und schüttelt den Kopf.
„Es geht nicht darum. Es ist scheiße, wenn man nach einer durchzechten Nacht
denkt, man hat noch Was zum Futtern, aber dann kommst du an und schrotest immer
alles weg. Das nervt echt, Alter!“
Ich antworte nicht, sondern schließe meine Augen, lehne mich zurück und atme tief durch.
„Was?“ fragt Henry argwöhnisch.
Als ich nicht
antworte, sondern nur den Kopf schüttele, steht er wieder auf und verlässt
wortlos mein Labor.
Das finde ich so großartig an Henry. Er redet immer ungefilterten Klartext mit
mir. Ich weiß genau, woran ich bin. Keine versteckten Botschaften, keine
beleidigten Leberwürste und vor allem keine Manipulation. Unsere Zusammenarbeit
hier hat dafür gesorgt, dass wir uns wortlos verstehen. Mit nur einem einzigen
Blick weiß er, wann ich meine Ruhe haben will, ohne beleidigt zu sein.
Den Rest des Tages verbringe ich mit Watson und einer großen Lieferpizza in meinem Labor vor dem Rechner und erstelle ein neues Skript für mein Programm. Dank ein paar neuer Dosen Energy habe ich noch ein paar Stunden durchgezogen, bis ich auf dem Sofa eingeschlafen bin.
Ein vertrautes Klopfen reißt mich aus meinem Schlaf. Watson streckt seine Glieder neben mir aus und verschwindet in der Zimmerecke hinterm Schrank. Ich setze mich auf und sehe müde auf meine Uhr. Halb sieben abends. Immer noch halb schlafend schleppe ich mich zur Tür und öffne sie für Henry, der mit einem großen Kasten Bier den Raum betritt.
„Du siehst noch beschissener aus als heute Morgen.“ Sagt er. „Ich dachte mir es ist Zeit für den Notfallkasten.“ Er stellt den Kasten Bier ab und lässt sich neben mir aufs Sofa fallen. Sofort öffnet er eine Bierflasche mit einer Zweiten, bevor er mir die Offene reicht. Ich nehme sie dankbar an.
„Also los, spuck´s aus.“ Sagt er knapp und öffnet sich selbst ebenfalls eine Flasche.
Ich lasse mich seufzend nach hinten fallen und lege den Handrücken über meine Augen.
„So wie du da liegst siehst du aus wie eine Jungfrau in Nöten.“ Spottet Henry lachend. Er hat ja keine Ahnung, wie sehr er damit ins Schwarze getroffen hat…
„Du würdest es nicht verstehen…“ Sage ich seufzend. Ich weiß, es klingt asozial, aber ich weiß, dass Henry selbst noch nie eine Freundin hatte und die Art wie er Alani seit mindestens einem Jahr hinterherschaut und noch immer keine Fortschritte gemacht hat, beweist mir, dass ich von ihm keine weltverbessernden Tipps erwarten kann.
„Woher willst du das wissen? Meinst du ich kann dir geistig nicht folgen, weil du ja so ein Genie bist und mehr Doktortitel hast als ich?“
Autsch. Muss er mir seinen Doktortitel so unter die Nase reiben?
„Wenn es Irgendwas wäre, was man mit Logik oder Chemie lösen könnte, hätte ich das Problem nicht!“ kontere ich. „Solange du keinen Doktor der Psychologie hast, nützt du mir nichts.“
Henry hebt eine Augenbraue. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen.
„Okay, es sollte nicht so scheiße klingen, wie es vielleicht rüberkam…“ Füge ich kleinlaut hinzu.
Was soll ich nur wegen Valerie unternehmen? Selbst, wenn ich nach ihr suchen wollte, wüsste ich nicht einmal, wo ich anfangen sollte. Studiert sie hier an unserer Universität? Die Uni ist riesig! Die einzelnen Gebäude sind praktisch in der halben Stadt verteilt! Vielleicht studiert sie aber auch an einer der anderen großen Hochschulen der Stadt. Es gibt hier einige! Oder sie lernt irgendeinen anderen Beruf, oder hat sogar schon einen? Frustriert seufze ich lang und tief.
Henry stöhnt genervt und lehnt sich zurück. „Also geht es um eine Frau?“ Er linst vorsichtig aus dem Augenwinkel zu mir herüber. Ich zucke nur mit den Schultern und nehme frustriert einen weiteren Schluck. „Das ist ein eindeutiges Ja.“ Henry nimmt ebenfalls einen großen Schluck. Dann inspiziert er seine Flasche argwöhnisch und leert sie in einem Zug.
„Wie weit bist du mit dem neuen Modul?“ fragt er, wahrscheinlich um das unangenehme Thema zu wechseln.
„Fertig. Läuft schon.“ Ich zeige hinüber zu Meinolf, unserem selbstprogrammierten, kleinen Laborroboter. Da uns die tägliche Grundlagenforschung zu eintönig wurde, haben wir getan, was wir konnten, um unsere Arbeitsschritte so weit wie möglich zu automatisieren, sodass wir die Hände für andere Dinge frei haben. Auf diese Art können viel mehr Reaktionsschritte in kürzerer Zeit durchgeführt werden, und das auch noch viel präziser als per Hand. Das Teil stand als gespendetes Gerät jahrelang im Keller herum, weil sich keiner die Mühe gemacht hatte, zu verstehen, wie es funktioniert und wie man es für den Laboralltag nutzbar machen kann.
Neue Wissenschaftler bringen eben immer neuen Wind in alte Institute herein. Da ich meine Programme alle selbst schreibe, bin ich so ziemlich jeden Tag hier und überwache Meinolf, damit auch alles nach Plan abläuft. Wenn man irgendwann seine Ergebnisse als Erster publizieren will, muss die Arbeitsgruppe schließlich schneller als alle anderen sein. Meinolf ist uns dabei eine große Hilfe.
„Das ging schnell.“ Sagt Henry anerkennend. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das neue Skript in drei Tagen schaffst.“ Er beugt sich hinunter, um durch die Glasscheibe des Roboters zu schauen, hinter der die Chemischen Reaktionen in vielen kleinen einzelnen Glasgefäßen ablaufen. Durch mehrere Nadeln an Beweglichen Armen werden Chemische Substanzen aufgezogen und nach vorprogrammierter Anleitung auf die einzelnen Gläser verteilt.
Schulterzuckend leere ich meine Bierflasche. „So langsam hab ich den Dreh raus.“
Nachdem Henry Musik angeschaltet hat, sitzen wir noch den Rest des Abends im Labor und die leeren Bierflaschen vermehren sich in rasanter Geschwindigkeit.
Comments (0)
See all