Liebes Tagebuch,
heute ist soviel geschehen, dass ich nicht weiß, wo ich beginnen soll.
Er ist wieder da, stumm und schön, mit traurigem Blick starrt er auf das Transkript, das ich per E-Mail am Morgen erhalten habe.
Als die Mail eintraf, stand er plötzlich hinter mir. Gott, ich habe noch nie so vor Schreck geschrien wie in diesem Moment. Kein Wunder, dass mein Nachbar besorgt vor der Tür stand.
Ja, tatsächlich mein Nachbar mit dem merkwürdig starrenden Blick, vielleicht habe ich ihm unrecht getan. Kaum hatte ich den Schrei ausgestoßen, klingelte und rief es aufgeregt an meiner Tür.
Der Mann stand in einem Flanell-Bademantel vor mir , im Haar noch deutlich sichtbar Shampoo und seine nackten Füße produzierten eine Pfütze. Ich musste ihm mehrmals versichern, dass es mir gut ging, dass ich mich nur erschrocken hätte. Dann war er wieder da, der starre Blick aber diesmal über meine Schulter hinweg.
Es lag mir auf der Zunge zu fragen, ob er den Geruch in meiner Wohnung wahrnehmen konnte oder das Klopfen hörte, oder den Geist sah, der sich wie ein Ritter hinter mir positioniert, hatte als müsse er ein Burgfräulein schützen. Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, nahm sie mir mein Nachbar in gewisser Weise ab.
Mit einer Hand den Bademantel zusammenhaltend über meine Schulter starrend, lud er mich auf einen Kaffee ein. Ich wollte ablehnen, zu einem potenziell verrückten in die Wohnung zu gehen, so weit war ich trotz meiner Halluzination noch nicht. Ehe ich dazu kam mir eine Ausrede auszudenken, nannte er mir allerdings ein Café zwei Minuten Gehweg von unsren Wohnungen entfernt.
Keine Ahnung, warum, aber ich nickte. Er hatte sich schon zum Gehen umgedreht, als er sich noch einmal zu mir wandte und meinte, ich solle das Porträt ruhig mitbringen. Dann nickte er zum Abschied und stapfte mit leisen plitsch platsch das seine nassen Füße verursachten davon.
Verwirrt schloss ich die Tür und sah meinen Geist an, der die Augenbrauen unwillig zusammengezogen hatte. In meinem Kopf poppte die Frage auf, ob mein Nachbar ihn sehen konnte, meinen Geist. War das verrückt? Aber was sonst hätte er über meine Schulter hinweg fixieren sollen? Ich drehte mich auf dem Absatz, um seinen Blickwinkel zu haben. Entweder er erlitt mit mir eine Massenhalluzination (kann bei zwei Menschen von Massen sprechen) oder er hatte im Spiegel meinen Computerbildschirm entdeckt, auf dem das Transkript gut lesbar sichtbar war.
Ich runzelte die Stirn. Also entweder hatte er Adleraugen oder das dritte Auge oder mit mir eine Halluzination. So kam ich nicht weiter.
Nachdenklich sah ich zu meinem Hausgeist. Warum sollte ich das Porträt mitbringen? Zumindest bestätigte seine Erwähnung des Gemäldes meinen Verdacht, dass er bei seinem ersten "Besuch" meinen Flohmarktkauf bemerkt hatte. Dennoch irritierte es mich, das er sich das Bild nicht nur gemerkt hatte, sondern auch wollte, dass ich es ins Café bringe.
"Ob er weiß das du nur mit dem Bild außer Haus kannst? Was ist, wenn die Leinwand leer ist, während wir da sind. Obwohl, wenn er auch ein leeres Bild sieht, dann wäre, das zumindest der Beweis, dass ich nicht verrückt bin...oder der Beweis, dass er es auch ist. Vielleicht soll ich das Gemälde auch nur mitbringen, damit er es stehlen kann...Nein, das ist Unsinn, er weiß, dass ich weiß, wo er wohnt. Was aber, wenn er es so arrangiert, dass es aussieht wie ein Straßenraub? So als hätte er nichts damit zu tun und dann..." Okay, ja ich gebe zu, während ich meine Theorien vor meiner Halluzination aussprach, kam ich mich albern vor. Weniger, weil ich mit meiner Einbildung sprach, sondern mehr, weil sich meine Mutmaßungen selbst für mich etwas weit hergeholt anhörten.
Mein untoter Mitbewohner lächelte mich zumindest ziemlich amüsiert mitleidig an.
"Gut, gut, vielleicht denke ich da zu weit. Kannst du als Geist mitkommen, wenn ich dein Bild mit ins Café nehme oder verschwindest du auf die Leinwand?" Mir viel zu spät auf das er nicht gleichzeitig auf zwei Fragen antworten konnte in Ermangelung einer Stimme. Frustriert von meiner eigenen Unbeholfenheit klatschte ich mir gegen die Stirn und versuchte es erneut: "Kannst du als Geist mitkommen ?" . Er grinste höchst zufrieden und nickte. Nun, da das geklärt war, musste ich mir überlegen, wie ich das nicht gerade kleine Porträt mitschleppen würde.
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