Liebes Tagebuch,
ich komme mir ein wenig albern vor, das hier zu schreiben.
Mit Mitte zwanzig fangen die meisten Frauen kein Tagebuch mehr an, schätze ich und wenn dann höchstens in der Form eine VLogs oder Ähnliches. Aber ich habe dieses wundervolle in rote Leder eingeschlagene Tagebuch auf dem Flohmarkt gefunden zusammen mit dem Gemälde, das ich restaurieren will.
Also warum nicht meine Arbeit an dem Bild hier mit diesem Tagebuch dokumentieren? Es hat etwas Nostalgisches, wieder mit einem Füller auf Papier zu schreiben, das leicht vergilbt von der Zeit ist. Tatsächlich genieße ich sogar, wie die feine Metallfeder über die raue Oberfläche kratzt.
Sosehr ich mich auch über das Tagebuch freue, mein Herz zum Hüpfen gebracht hat das Bild, das gerade an meiner Schlafzimmerwand lehnt.
Eine alte Frau, so unscheinbar, dass sie zwischen all den lauten Händlern und bunten Herbstblättern zu verschwinden drohte, hat es mir verkauft. Es war das einzige Stück, das sie mitgebracht hatte. Eigentlich verwunderlich, doch wer weiß, vielleicht hatte sie nicht mehr von Wert. Sie tat mir unendlich leid. Wahrscheinlich habe ich ihr deshalb das doppelte von dem, was sie gefordert hat, bezahlt. Ihre zarten Finger zitterten, als sie mir das Gemälde reichte.
Wahrscheinlich hätte ich sogar noch mehr dafür bezahlt. Ich kann nicht einmal genau sagen, was es ist, aber das Bild hat mich magisch angezogen, obwohl nicht mehr viel vom eigentlichen Glanz übrig ist.
Man kann zwar noch grob das Porträt eines hübschen jungen Mannes mit gepeinigtem Blick erkennen, wahrscheinlich aus dem 18. Jahrhundert, aber die Leinwand ist stark beschädigt. Sie hängt in Fetzen herunter, als hätte ein Bär wiederholt seine Krallen daran gewetzt. Merkwürdig eigentlich, wer zerstört ein Bild so sehr und behält es dann doch? Er sieht aus, als wäre er ein junger Adeliger gewesen und wenn ich richtig liege, hat das Gemälde kein Hobbymaler angefertigt. Eine Signatur konnte ich jedoch nicht finden.
Vielleicht war es ja das Bild eines Liebhabers, das einen Ehemann zur Raserei brachte? Oder die betrogene Edeldame hat sich in ihrer Wut daran ausgelassen? Aber warum hatten sie es dann nicht entsorgt oder restauriert? Je mehr ich mir dieses Porträt ansehe, desto mehr Fragen habe ich. Es ist wie ein Rätsel, das von mir geknackt werden will.
Den morgigen Tag werde ich damit verbringen die Geschichte des Bildes zu erkunden. Wer war er? Was ist mit ihm passiert? Warum hat jemand in die Leinwand geschnitten? Versehen oder Absicht? Vielleicht kann ich ein Bild vom Aussehen des Gemäldes vor der Beschädigung auftreiben. Das würde wahnsinnig helfen bei der Wiederherstellung.
Vielleicht kann mir die Galerie um die Ecke behilflich sein? Möglicherweise war er ja ein bekannter ansässiger Herzog oder so etwas. Zuerst allerdings sollte ich meine Wohnungsvermietung anrufen. Seit ich nach Hause gekommen bin, ist es in der Wohnung fast kälter als draußen.
Wahrscheinlich sind die Fenster undicht.
Mir werden die Finger immer tauber vor Kälte.
Comments (0)
See all